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Was schiefgelaufen ist

Ulf Dieter Klemm und Wolfgang Schultheiß diskutieren die Krise in Griechenland

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein vom ehemaligen bundesdeutschen Botschafter in Athen Wolfgang Schultheiß und dessen Kulturreferenten Ulf Dieter Klemm herausgegebener Band will Vorurteilen und Klischees über Griechenland und die Griechen in der Berichterstattung deutscher Medien entgegenwirken. Die Autoren des Buches »Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen« fordern vor allem eine stabile 
Investitionspolitik.

Die Herausgeber des hier anzuzeigenden Sammelbandes verfügen über jahrelange Griechenland-Erfahrungen. Wolfgang Schultheiß war 2005 bis 2010 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Athen, Ulf Dieter Klemm arbeitete als Kulturreferent an der Botschaft und ist heute als Übersetzer griechischer Texte tätig. Es ist den beiden gelungen, 30 Autoren aus Griechenland, Deutschland, Tschechien und England, allesamt ausgewiesene Kenner des Inselstaates an der Ägäis, für Stellungsnahmen zur griechischen Krise und deren Vorgeschichte zu gewinnen. Das Thema wird komplex behandelt, denn nach Auffassung der Herausgeber ist die gegenwärtige Krise in Griechenland keine bloße Schulden- und Wirtschaftskrise, sondern auch eine Krise des politischen Systems, wenn nicht gar der griechischen Gesellschaft.

In sieben Kapiteln werden der bisherige Verlauf der Krise, die Gründe für ihr Entstehen, die internationalen Rahmenbedingungen und Lösungsansätze behandelt. Neben einer Vielzahl von harten Fakten werden unterschiedliche Erklärungsansätze vorgestellt. Ziel der Herausgeber ist es, dem Leser Argumente für eine sachlichere Diskussion zu vermitteln. Dies sei notwendig, da die Griechenland-Diskussion in Deutschland »von Ignoranz und irreführenden Klischees geprägt« ist. Trotz ihrer harschen Kritik an gängigen Auffassungen über Griechenland und die Griechen wollen die Experten keineswegs behaupten, dass in Hellas eigentlich alles in Ordnung sei, die bisherigen Regierungen in Athen sich energisch um die Krisenbekämpfung bemüht hätten und nur die miserable Entwicklung der Weltkonjunktur, eine falsche Behandlung durch die EU und eine unglückliche geopolitische Situation - viele Kriegs- und Krisenflüchtlinge aus Nahost und Afrika versuchen über Griechenland in die EU zu gelangen - die wirtschaftliche Gesundung verhindert hätten. Nein, schonungslos kritisieren die Autoren auch unzureichende eigene Anstrengungen der Griechen. »Die Tatsache, dass das griechische Parlament ein Reformgesetz verabschiedet, hat wenig zu sagen«, schreibt Klemm. Manchmal sei das nur geschehen, um den Forderungen der Troika zu entsprechen und weitere Kredite zu bekommen. Wiederholt sei die Umsetzung durch Widerstand innerhalb der (vorherigen) Regierung selbst verhindert worden. Manchmal hätte sich auch die Verwaltung geweigert, getroffene Anordnungen zur Verwirklichung von Reformen auszuführen. Den Ursachen für die Verweigerungshaltung sind spezielle Beiträge gewidmet.

Zum politischen System in Griechenland seit 1974 äußert sich Thamos Verenis, emeritierter Professor von der Universität Athen, zur Entwicklung der griechischen Staatsverschuldung Tassos Giannitsis, ebenfalls von der hauptstädtischen Alma mater. Über »Staatsverständnis und Klientelismus in Griechenland« informiert Andreas Stergiou, Politikwissenschaftler an der Universität Kreta. Einen kritischen Blick auf die Politik der EU gegenüber Griechenland werfen der Berliner Professor Sebastian Dullien und Daniela Schwarzer, Professorin von der John Hopkins Universität in Washington; sie liefern fundierte Informationen darüber, was wegen der EU in Hellas »schiefgelaufen« ist. Den Debatten um Lösungen ist das abschließende Kapitel gewidmet. Hoffnungen setzen die Autoren vor allem auf den griechischen Mittelstand, die Großredereien sowie die erneuerbaren Energien und den Tourismus. Sie verlangen eine konsistente Investitionspolitik, Bildung und wachstumsorientierte Verteilung der eigenen und europäischen Mittel.

Dieser Band ist vor dem Wahlsieg von Syriza und dem Amtsantritt der von Alexis Tsipras geleiteten Koalitionsregierung in Druck gegeben worden. Kommentare zur jüngsten Krisenpolitik der Regierung in Athen und deren Auseinandersetzung mit der Troika und der EU enthält die Publikation daher nicht. Aber die Fülle der hier gebotenen soliden Informationen ermöglicht es dem Leser, sich über den Wahrheitsgehalt der durch Presse, Fernsehen und Rundfunk verbreiteten Informationen zur griechischen Krise eine eigene Meinung zu bilden. Denn anders, als es sich die Herausgeber erhofften, während sie den Band abschlossen, wird die Berichterstattung in den deutschen Medien nach wie vor von Ignoranz und Klischees dominiert.

Ulf Dieter Klemm/Wolfgang Schultheiß (Hg.): Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen. Campus, Frankfurt am Main. 546 S., br., 29,90 €.

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