Dopingrätsel vor der Tour de France

Alte und neue Substanzen sorgen vor dem Start der Frankreichrundfahrt für Beunruhigung

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
Auch bei der diesjährigen Tour de France, die am Sonnabend beginnt, werden wieder dopende Radprofis im Peloton mitfahren. So viel scheint sicher. Fraglich nur, ob sie erwischt werden und wie viele es sind.

Utrecht. Die Tour de France rückt näher und damit auch die Diskussion um die unterstützenden Mittel bei Ausdauerleistungen. Pünktlich zum Tourstart wurde der Italiener Davide Appollonio mit Epo erwischt. Der Sprinter vom Zweitliga-Rennstall Androni Giocattoli hatte kurz zuvor den Giro d’Italia beendet. Er gehörte 2011 bei der Italienrundfahrt noch zum Team Sky. Dass er jetzt mit einer positiven A-Probe überführt wurde - das Ergebnis der B-Probe steht noch aus -, lässt zwei Schlussfolgerungen zu. Entweder nahm es der »Null Toleranz«-Rennstall von der Insel in der Vergangenheit nicht so genau mit dem Kampf gegen das Doping oder der Italiener entdeckte verbunden mit seinem Arbeitgeberwechsel erst spät die Lust am Doping - ausgerechnet in Zeiten, in denen das Peloton angeblich immer sauberer wurde. Echte Rätsel kurz vor dem Tourstart.

Appollonios Beispiel legt nahe, dass auch das Peloton der 102. Tour de France nicht komplett dopingfrei sein wird. Auf 20 bis 90 Prozent bezifferte der im Frühjahr vorgestellte Report der Reformkommission der UCI den Anteil der dopenden Fahrer. Der Maximalwert erschien vielen als zu hoch gegriffen. Die Streuweite der Prognose irritierte zudem. Festhalten darf man aber: Der Anreiz zum Dopen ist weiter gegeben. Trotz verstärkter Kontrollen bestehen weiter Schlupflöcher. Die betreffen sowohl den Blutpass als auch neue Substanzen.

Der französische Sportwissenschaftler Pierre Sallet wies mit einer im Mai im französischen Fernsehen vorgestellten Studie darauf hin, dass der individuelle Blutpass des Athleten bei geschickter Dosierung umgangen werden kann. Er ließ acht Amateursportler über vier Wochen lang alle zwei Tage Mikrodosen Epo, Wachstumshormon und Kortikosteroide zuführen und gab ihnen auch zweimal je einen Viertelliter Eigenblut. Die Blutwerte blieben dabei in unverdächtigen Regionen. Die Sportler verbuchten aber Leistungszuwächse von im Schnitt 2,5 Prozent im Radsport wie im Ausdauerlauf. Sie berichteten zudem von einer »euphorisierenden Wirkung«. Sie fühlten sich »unglaublich stark«, manche gar unbesiegbar. »Das deckt sich mit Erfahrungen, die wir aus Gesprächen mit geständigen Dopern machten«, bestätigte der Nürnberger Antidopingexperte Fritz Sörgel. In der Hochdopingphase wurden freilich die Verbesserungsraten im Radsport mit bis zu zehn Prozent angegeben. Mikrodosendoping könnte sich weniger lohnen. Betrug bleibt es dennoch.

Mit anderen Mitteln können die alten Steigerungsraten aber auch heute leicht erzielt werden. Die Forscher des Kölner Instituts für Biochemie warnen vor ganz neuen Substanzklassen mit den Effekten von klassischem Epo und Wachstumshormon. Dabei werden nicht die gewünschten Stoffe selbst, also Erythropoetin oder Wachstumshormon, zugeführt. Die Medikamente regen hingegen die körpereigene Produktion an. Klassische Tests auf Epo und Wachstumshormon lösen also nicht aus, weil die Substanzen vom Körper produziert wurden. Bei geschickter Dosierung dürfte - analog zur Vergabe von Mikrodosen wie im Experiment von Sallet - auch die Auswertungssoftware des Blutpasses nicht Alarm schlagen.

Für Epo-affine Doper ganz praktisch können noch in Testverfahren steckende Präparate der US-Firma Fibrogen (FG2216 und FG4592) einfach als Pillen heruntergeschluckt werden. Das bedeutet zusätzliche Betrugsgefahr. »Alles, was nicht gespritzt werden muss, hat eine geringere Invasivität, das heißt die Hemmschwelle kann hier geringer sein. Und die Dosierung ist bei dieser Verabreichungsform deutlich einfacher, insbesondere für den nicht geübten, nicht therapeutischen Einsatz«, meinte der Kölner Biochemiker Mario Thevis zu »nd«. Dass die Substanzen bei Hochleistungssportlern im Umlauf sind, zeigte der positive Befund des französischen Gehers Bertrand Moulinet. Der Olympiaachte von London wurde im April 2015 mit FG4592 erwischt. Sein Fall belegt aber auch, dass das Nachweisverfahren funktioniert - und dass es im Mutterland der Tour eingesetzt wird.

Warnungen von Dopingfahndern vor Hematide, einem anderen Medikament, das die Erythropoetinproduktion ankurbelt, gibt es seit 2008. Positive Kontrollen: Fehlanzeige. Das Präparat, weiterentwickelt unter dem Namen Omontys, wurde 2013 aus dem Verkehr gezogen, weil es in klinischen Tests Todesfälle verursacht hatte. Dass alte Chargen dennoch auf dem Dopingmarkt herumgeistern, kann niemand ausschließen.

Substanzen, die die Produktion von Wachstumshormon forcieren, wurden 2014 im Rahmen des Essendon-Skandals im Australian Football sowie im April diesen Jahres beim britischen Rugbyprofi James Lockwood entdeckt. Pralmorelin hieß die Substanz bei Lockwood, Hexarelin bei den Footballprofis.

Dass bei all diesen neueren Substanzen einmal nicht Radprofis als erste überführte Nutzer auftauchen, sondern Geher, Rugbyspieler und Footballer, lässt vollkommen diametrale Deutungen zu: Entweder sind sie geschickter als Doper anderer Sportarten. Oder im Radsport hat tatsächlich der Kampf um die jeweils neueste Substanz an Bedeutung verloren. Dass Chris Froome, einer der vier Favoriten der kommenden drei Wochen, aus eigenen Stücken zugibt, einen Dopingtest verpasst zu haben, weil das Hotelpersonal die Kontrolleure nicht ins Zimmer ließ, kann man sogar als Transparenzfortschritt bezeichnen. Der Epo-Befund des Ex-Teamkollegen Appollonio ist aber eine Warnung, dass es sich bestenfalls um eine beginnende Verbesserung handeln kann.

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