Eine Prager Kneipe als Überlebensort

Jaroslav Rudiš: Sein neuer Roman »Nationalstraße« will tschechische Mentalität erklären

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 4 Min.

Jaroslav Rudiš beendet seinen kleinen Roman mit einem Satz, der seine Entstehung erklären soll: »Ich wollte ein Buch schreiben über uns Tschechen, die wir unter uns leben und große Angst vor dem Fremden und vor den Fremden haben.«

Damit springt er hinein in die Beschreibung aktueller tschechischer Mentalität des Einigelns und der Vorstellung, als kleine Nation im Herzen Europas zu den ewigen Opfern der Geschichte zu gehören. Rudiš erfindet sich zu diesem Zweck eine wunderbare Hauptfigur: den Kneipen-Schwadroneur Vandam, der sich diesen Namen nach dem Actionfilm-Helden Jean-Claude von Damme gegeben hat. Bei vielem, was Vandam sagt und tut, hört man als Leser den Ruf »Action!«. Vandam schlägt zu - mit Worten und mit seinen Fäusten und ist doch ein besorgter Vater und tschechischer Patriot.

Aus diesem Gegensatz bezieht der Roman sein Lesevergnügen. In »Nationalstraße« finden sich Töne der Großen der tschechischen Literatur - Jaroslav Hašek und Bohumil Hrabal -, was seine Originalität nicht schmälert, nur sagt: Hier ist einer stolz auf seine literarische Herkunft. Stolz auch auf seine nationale Herkunft als Tscheche, warum sonst nennt er seinen Roman »Nationalstraße«.

Rudiš ist einer der wenigen literarischen Nachbarn, die es auf dem deutschen Buchmarkt geschafft haben. Der 1972 geborene Tscheche startete mit seinem Punk-Roman »Der Himmel unter Berlin«, was das Berliner U-Bahn-Netz meint, legte mit dem später verfilmten Roman »Grandhotel« nach und feierte mit seinem als Graphic Novel erzählten und von Jaromir 99 illustrierten »Alois Nebel« in Buch und Film Erfolge. Die Geschichte vom Fahrdienstleiter aus dem kleinen Grenzort Bilý Potok, der nachts die Züge aus der dunklen Vergangenheit von Krieg und Vertreibung sieht und seine Albträume nicht mehr los wird, war ein frühes Zeichen dafür, was die Graphic Novel kann und warum sie nicht mit dem Comic zu verwechseln ist. Eine beeindruckende Figur ist dieser Alois Nebel, mit dem ein halbes Jahrhundert Geschichte im Güterwaggon auf uns zurollte.

Der neue Roman ist im Original 2013 erschienen, was den Gedanken verwirft, er sei eine Reaktion auf Tschechiens aktuelle Abweisung von Flüchtlingen. Die Nationalstraße in Prag ist der Ort, an dem die Samtene Revolution am 17. November 1989 die kommunistische Staatsmacht zum Abdanken zwang. Einer, der dabei war, in der erste Reihe, ist zur Hauptfigur des Romans geworden.

Rudiš macht Vandam zum Sprecher des Romanmonologs. Die Handlung spielt ein Vierteljahrhundert nach der stolzen Revolution. Vandam lebt in einer abgehängten Plattenbausiedlung im Norden von Prag, aber eigentlich lebt er in der »Severka«, einer Kneipe mittendrin. Sie gehört Sylva, die mit Vandam zusammen ist, wenn sie ihm nicht gerade wegläuft, weil er sie beleidigt und geschlagen hat. Vandam ist alles andere als ein Revolutions-Sieger, sondern ein bis aufs Messer gereizter Verlierer. Er sieht, wie die Bonzen von einst und die Anschleimer von heute an ihm in ihren teuren Autos vorbeiziehen. Was kann er gegen diese Tschechen, die sich als Opfer der Weltgeschichte so gern selbst bemitleiden, von seinem Kneipenstuhl in der »Severka« aus tun? Er kann seinem Sohn bloß sagen: Mach’s besser als ich!

Vandam ist ein Moralprediger. Aber eben auch ein Schwadroneur der Sorte, die die Welt von »unseren Kneipen aus beobachtet und hofft, dass alle Kriege und Krisen an uns vorbeiziehen mögen«. Rudiš bekommt seine Figur damit dicht an den legendären Roman-Helden Josef Schwejk heran. Gleich ihm ist Vandam ein typischer tschechischer Charakter, der die bedrohliche Weltlage mit listigen und aufrührerischen Reden zu unterwandern versucht. Aber er gewinnt seinen Kampf gegen Windmühlen nicht. Stutzt man noch über den Anfangssatz »Adolf Hitler hat mir das Leben gerettet«, weiß man am Schluss, dass sein »Heil Hitler«-Schrei ein Hilferuf war, damit die Polizei den in seinem Blut auf der Straße Liegenden ins Krankenhaus schafft. Zu spät gerufen. Adolf Hitler hat ihm das Leben nicht gerettet.

Der Roman breitet Familiengeschichte, die Geschichte des Plattenbau-Viertels und die Weltgeschichte vor dem Leser aus, zumindest seit der Schlacht im Teutoburger Wald. Die Ansprachen an den Sohn, der dreimal 30 Liegestütze am Tag machen soll, um kein Weichei zu werden, hätten in ihren Wiederholungen im Roman wie plumpes Sprücheklopfen wirken können. Nicht so bei Rudiš. Er setzt sie gekonnt in einen Rap-Rhythmus. Die mehr rhetorisch angelegten Kurzszenen wechseln mit ausgefeilten Erzählungen von Niederlagen Vandams, bei Sylva und beim Gerichtsvollzieher, als der die Kneipe pfänden will.

Wie es Jaroslav Rudiš gelingt, auf kleiner Strecke den Sprecher zu einer Figur zu machen, der man als Leser wünscht, ihre Worte seien nicht vergebens, das verrät viel schriftstellerisches Format. Für die deutsche Ausgabe teilen sich den Erfolg der Autor und seine Übersetzerin. Eva Profousová war bereits mehrfach in Diensten von Rudiš Büchern. Sie zeigt in ihrer Übertragung von »Nationalstraße« eine sichere Hand für die Sprache dieser schillernden Figur und das Milieu einer Kneipe in der Prager Vorstadt. - »Nationalstraße« ist von Jaroslav Rudiš nicht so komplex angelegt wie beispielsweise sein 2014 erschienener Roman »Vom Ende des Punks in Helsinki«, aber in seinem gesteckten Rahmen ist er nicht weniger gelungen!

Jaroslav Rudiš: Nationalstraße. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Luchterhand. 160 S., br., 14,99 €.

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