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Was Einstein wütend machte

Wissenschaftler bezweifeln die Effizienz des sogenannten Peer-Review-Verfahrens zur Begutachtung von Zeitschriftenaufsätzen. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

In fast allen Wissenschaften gelten Publikationen als wichtigster Indikator für die Qualität der Forschungsarbeit. Besonders begehrt sind Veröffentlichungen in international renommierten Zeitschriften, denn sie erleichtern es den betreffenden Autoren, gleichsam in die Champions-League ihrer Disziplin aufzusteigen. Doch der Weg dorthin birgt viele Hindernisse. So führen die meisten Journale ein strenges Auswahlverfahren durch, um sicherzustellen, dass nur qualitativ hochwertige Arbeiten veröffentlicht werden: das sogenannte Peer-Review (englisch von Peer, Gleichrangiger und Review, Gutachten).

Idealerweise läuft dieser Prozess wie folgt ab: Ein Autor, der in einer Fachzeitschrift einen Artikel veröffentlichen möchte, reicht ihn zunächst bei deren Herausgeber ein. Sofern dieser den Inhalt des Textes für grundsätzlich geeignet hält, übergibt er das Manuskript einem oder mehreren Gutachtern, die auf demselben Gebiet arbeiten wie der Autor. Nach eingehender Prüfung empfehlen die Gutachter dem Herausgeber, den Artikel entweder in gegebener Form zu veröffentlichen oder abzulehnen. Häufig regen sie auch an, ihn zur Überarbeitung an den Autor zurückzuschicken. Um die Objektivität des Urteils zu gewährleisten, vertraut man zumeist auf das sogenannte Doppelblind-Verfahren. Das heißt, die Gutachter wissen nicht, wer die Autoren des Artikels sind, und den Autoren bleibt verborgen, wer ihre Arbeit prüft.

Obwohl das Peer-Review-Verfahren recht modern anmutet, reicht seine Geschichte zurück bis ins England des 17. Jahrhunderts. Hier gab Henry Oldenburg, der deutsche Sekretär der Royal Society, ab 1665 die Zeitschrift »Philosophical Transactions« heraus. Da er sich als Theologe jedoch außerstande sah, die Qualität der ihm zugesandten wissenschaftlichen Aufsätze angemessen zu beurteilen, delegierte er diese Aufgabe an Kollegen, die er für kompetent hielt.

Als eigentlicher Vorreiter des Peer-Review gilt der Philosoph William Whewell. Es diene dem öffentlichen Ansehen der Wissenschaft, erklärte er 1831 gegenüber der Royal Society, wenn namhafte Gelehrte über alle bei den »Philosophical Transactions« eingehenden Beiträge einen Bericht verfassten und diesen in den neu gegründeten »Proceedings of the Royal Society« veröffentlichten. Lange wurde diese Praxis jedoch nicht beibehalten. Bereits 1833 erfolgte die Begutachtung der Aufsätze geheim und anonym. Überdies wurden keine negativen Einschätzungen mehr veröffentlicht.

Außerhalb der angelsächsischen Welt fand das Peer-Review anfangs wenig Beachtung. Als Albert Einstein 1905 in den »Annalen der Physik« seine Arbeit über die spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte, hatte diese vorab niemand extern begutachtet. Ansonsten wäre sie vielleicht abgewiesen geworden, denn was darin stand, kam einer Revolution der Physik gleich. Nur einmal wurde Einstein mit dem Peer-Review-Verfahren konfrontiert. Zusammen mit Nathan Rosen hatte er 1936 in den USA eine Abhandlung über Gravitationswellen verfasst und sie an das prominente Fachblatt »Physical Review« gesandt. Dessen Herausgeber John Tate wusste nicht so recht, ob er das Papier annehmen sollte, und ließ es begutachten. Als Einstein davon erfuhr, war er wütend. »Rosen und ich haben Sie nicht autorisiert, das Manuskript vor seiner Veröffentlichung einem anonymen Experten zu zeigen«, schrieb er an Tate. Einstein zog das Papier zurück und veröffentlichte es im »Journal of the Franklin Institute«. Ironie der Geschichte: Zuvor hatte er die von dem Experten bemängelten Stellen überarbeitet. Bei »Physical Review« reichte Einstein fortan keinen Beitrag mehr ein.

Von »lästigen« Gutachtern verschont blieben dagegen der Biologe James Watson und der Physiker Francis Crick. Denn das britische Fachblatt »Nature«, in dem beide 1953 ihre klassische Arbeit über die Doppelhelix-Struktur der DNA veröffentlichten, führte das formale Peer-Review erst 1967 ein. Hätte »Nature« dies 15 Jahre früher getan, womöglich wäre der nach damaligen Maßstäben spekulative Aufsatz abgelehnt worden.

Überhaupt nutzt das Peer-Review-Verfahren vor allem Forschern, die etablierte Modelle und Theorien vertreten, welche dadurch weiterentwickelt und vervollkommnet werden. Mit neuen und ungewöhnlichen Denkansätzen tun sich Gutachter erfahrungsgemäß schwerer. Tatsächlich wurden von Fachjournalen immer wieder Arbeiten zurückgewiesen, die sich im Nachhinein als fundamental herausstellten. 1934 entwickelte der italienische Physiker Enrico Fermi erstmals eine Theorie des radioaktiven Betazerfalls. Er schickte den von ihm hierzu verfassten Artikel an die Zeitschrift »Nature«, die ihn prompt ablehnte. Ähnlich erging es dem Biochemiker Hans Krebs, der 1937 den Citratzyklus entdeckt hatte. Auch er wollte darüber in »Nature« berichten, doch die Redaktion winkte ab, woraufhin Krebs, der später den Nobelpreis erhielt, seinen Artikel in dem weniger gewichtigen Journal »Experientia« publizierte.

Kritiker des Peer-Review-Systems weisen überdies darauf hin, dass durch die langwierige Begutachtung die Veröffentlichung von Artikeln oft um Monate oder Jahre verzögert werde. Bei so viel vorgeblicher Gründlichkeit sollten Betrugsversuche von Autoren eigentlich keine Chance haben. Doch die Realität sieht anders aus, wie der Fall des deutschen Physikers Jan Hendrik Schön belegt, der vor einigen Jahren mehrere Durchbrüche in der Halbleiterforschung ankündigte. 2001 publizierte er im Schnitt jede Woche einen Artikel, 17 davon erschienen in den Top-Journalen »Science« und »Nature«. Dann jedoch stellte sich heraus, dass ein Großteil der darin befindlichen Daten gefälscht war. Am Ende musste »Nature« sieben von Schöns Publikationen zurückziehen, bei »Science« waren es acht.

Die Art, wie das Peer-Review-Verfahren heute gehandhabt wird, verführt Autoren geradezu, sich taktisch zu verhalten. Infolge der Zersplitterung der Wissenschaft gibt es zum Beispiel in jeder Sparte der Forschung einige bekannte Koryphäen. Daher könnten sich clevere Autoren schon vorab auf ihre potenziellen Gutachter einstellen, meint Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre in der Schweiz. »Um diese Gutachter günstig zu stimmen, wird man sie möglichst alle zitieren bzw. ihre Arbeiten lobend erwähnen. Umgekehrt sollte man es als Autor tunlichst vermeiden, Arbeiten von möglichen Gutachtern zu kritisieren, denn das ist ein sicherer Weg zur Ablehnung.« Für das Hinterfragen hergebrachter Theorien fehle so der Anreiz. »Gefördert wird stattdessen die Replikation von bestehendem Wissen, indem bereits existierende Ansätze um weitere Modellvarianten oder zusätzliche empirische Untersuchungen angereichert werden.«

Hinzu kommt, dass bereits etablierte Wissenschaftler die strengen Regeln des Peer-Review routiniert umgehen können. Das gilt namentlich für die Anonymität der Begutachtung. »Etablierte Wissenschaftler kennen sich untereinander und wissen schon vorher, welche Papers von Kollegen eingereicht werden«, so Binswanger, der dem Peer-Review-System immerhin bescheinigt, dass es die Veröffentlichung von blankem Unsinn verhindere.

Manchmal freilich gelingt auch das nicht, wie der US-Physiker Alan Sokal 1996 auf spektakuläre Weise demonstrierte. Er verfasste einen Aufsatz mit dem Titel »Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity« (Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation) und reichte ihn bei der postmodern orientierten Zeitschrift »Social Text« ein. Obwohl die Herausgeber nach der Prüfung des Beitrags einige Änderungen wünschten (die Sokal verweigerte), druckten sie den Text ab.

Kurz darauf lüftete Sokal das Geheimnis. Sein Aufsatz, ein wirres Gemisch aus philosophischen und physikalischen Begriffen, war eine Parodie. Was man eigentlich leicht hätte erkennen können. Zum Beispiel an der skurrilen Behauptung, dass die »Quantengravitation eine archetypische postmoderne Wissenschaft« sei, die »eine starke Widerlegung des in der traditionellen Wissenschaft immanenten Autoritären und Elitären« darstelle. Der Fall Sokal löste hitzige Diskussionen aus, die vor allem eines deutlich machten: Jede Begutachtung wird zur Farce, wenn die Herausgeber einer Zeitschrift (oder eines anderen Mediums) am Ende nur Texte durchgehen lassen, die ihr eigenes Weltbild bestätigen, während sie alles ablehnen, was dem widerspricht.

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