Minutiös sozialdemokratisch

Warum ein Wahlkampfgag der SPD am Ende auch dazu taugt, die politische Bilanz der Genossen kritisch zu hinterfragen

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 3 Min.

Seitdem die Sozialdemokraten ihren neuen Kanzlerkandidaten haben, sind sie besser als Parship. Denn dort verliebt sich nur alle elf Minuten ein Single. Die SPD hat nun ihren »Schulz-Effekt« berechnet und herausgefunden: Alle acht Minuten verliebt sind ein Mensch in Deutschland in Martin Schulz. Nicht nur Singles. In den sozialen Netzwerken wirbt man mit dieser Zahl und nennt sich – ein Seitenhieb auf die Partnervermittlung - »Deutschlands beste Gerechtigkeitsvermittlung«.

Nimmt man die Zahlen der Neumitglieder zur Hand und berechnet die Minuten, die seit der Nominierung von Schulz vergangen sind, kommt man zu folgendem Resultat: Stimmt - das mit den acht Minuten kommt hin. Geht das bis zum Jahr 2050 so weiter, wächst die sozialdemokratische Gemeinde um eine Stadt in der Größenordnung Hamburgs. Und das bei sinkender Gesamtbevölkerungszahl und ohne die Berechnung von Kindern, die Neumitglieder zeugen. Unseriöse Studien behaupten seit Jahren, dass die Deutschen aussterben. Was sie uns nie sagten: Sie werden alle acht Minuten durch einen neuen Sozialdemokraten ersetzt.

Nein, im Ernst, es geht vorwärts mit den Genossen. Sie vermehren sich. Zwischen 1990 und 2011 ist ihnen alle 24 Minuten ein Parteimitglied abhandengekommen, was fast zur Halbierung des Bestandes führte. Bei 24 Minuten hatte man ja noch fast eine halbe Stunde Zeit, die Ausscheidenden doch noch zu überreden. Bei den Wählern zwischen 1998 und 2009 stand man viel stärker unter Zeitdruck. Alle 33 Sekunden ging in dieser Zeitspanne ein Wähler von der SPD ab. So schnell konnte man gar keinen Kontakt zu ihm aufbauen.

Verwunderlich war das nun nicht, nimmt man mal die Zahlen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik minutiös unter die Lupe, die die Sozialdemokraten verursacht haben. Alle drei Minuten und 54 Sekunden (Stand: 2016) verschickten die Jobcenter Sanktionsbescheide an Langzeitarbeitslose. Indes gedieh die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit einem Zeitfaktor von zwei Minuten. In dieser Zeitspanne kam zwischen 1998 und 2015 je ein Teilzeitbeschäftigter hinzu. Alle zwei Minuten gab es also wieder jemanden, der nicht in Vollzeit eingestellt werden konnte. Während der geneigte Leser diesen Text hier liest - veranschlagen wir hierzu mal großzügige vier Minuten – kommen weitere Teilzeitangestellte in Lohn und kleine Brötchen.

Zwischen 1998 und 2015 gingen alle 13 Minuten Menschen ab dem 65. Lebensjahr nicht etwa in Rente, sondern blieben dem Arbeitsmarkt erhalten. Und da sind die Älteren, die gerne noch wollten, weil sie von ihrer Abzugsrente nicht richtig leben können, noch gar nicht drin. Die INSM meldete neulich übrigens per Meme bei Facebook, dass dieser Umstand allein der Spritzigkeit heutiger Senioren geschuldet sei. Die Alten wollten nur Selbstverwirklichung umsetzen, noch nicht zum alten Eisen gehören und so weiter. Dass es manche es einfach nötig haben, auch noch im Alter zu schuften, wurde von der INSM allerdings mit keiner Silbe erwähnt.

Alle 13 Minuten unterschlagen Lobbyisten und Think Tanks übrigens konkrete Wahrheiten und ersetzen sie durch euphemistische Parolen. Na gut, alles bis auf die letzte Minutenangabe kann man nachrechnen. Es sind Zahlen, die belegen, dass die Politik der SPD die Situation für ihre eigentliche Klientel von Minute zu Minute verschlechtert hat.

Gewisse Indikatoren zum Zustand der SPD kann man nur minutiös schätzen, weil es an Zahlenmaterial fehlt. Gefühlte Minuten sind zum Beispiel: Alle 21 Minuten lobt ein Sozialdemokrat Gerhard Schröder für seine Kanzlerschaft. Alle dreizehn Minuten behauptet jemand in dieser Republik, dass die SPD den Mindestlohn schon vor 15 Jahren gepredigt hätte. Alle zwölf Minuten denkt Andrea Nahles an Verschlimmbesserungen bei Hartz IV – alle elf Minuten denkt jemand über Andrea Nahles, sie gehöre dem linken Flügel der Partei an. Alle acht Minuten stellt sich ein führender Sozialdemokrat vor die Presse und erklärt, dass die Agenda 2010 ein Meisterwerk sei, das nur wenige Korrekturen brauche. Und alle vier Minuten verwechselt ein Sozi Herrn Schulz mit dem Messias. Und während Sie das gelesen haben, lieber Leser, hat sich schon wieder ein halber Mensch für die »Gerechtigkeitsvermittlung« entschieden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: Der Heppenheimer Hiob