Bundeswehr, Heirat, Sparkasse

Bov Bjergs Erfolgsroman »Auerhaus« als Bühnenstück am Deutschen Theater Berlin

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Birth, School, Work, Death. Geburt, Schule, Arbeit, Tod. Zusammengeschrumpft auf diese vier Begriffe ist das Dasein in der verwalteten Welt. Der Mensch ist im Wesentlichen Kostenfaktor und Nutzwesen. Besonders in der Provinz, auf dem Dorf, ist die Lebensperspektive eines Heranwachsenden überschaubar. Was kann er oder sie schon aus dem Leben machen, das vor einem liegt wie ein endloser, dunkler, ins Nichts führender Gang? Heiraten, Hausfrau, Kinderkriegen, Bundeswehr, Sparkassenangestellter, Metzgereifachverkäuferin, oder lebenslanges Versauern in einer Amtsstube, in der man Aktenordner von A nach B trägt. »Wozu leben wir?« ist eine Frage, die man sich mindestens ein Mal in seinem Leben stellen sollte und die auch in der Bühnenfassung von »Auerhaus« gestellt wird. Und die Antwort vieler Menschen darauf klingt wie jene, die Schüler einem geben, die nicht verstanden haben, dass Fragen und die Antworten darauf nicht nur wichtig sind für die bevorstehende Klassenarbeit: »Das kommt nicht dran, das müssen wir nicht wissen.«

In Bov Bjergs Erfolgsroman geht es genau darum: um die Alternative zu einem Leben in Ödnis und Einfalt und zum stumpfsinnigen Trott im kapitalistischen Alltag, um Anpassung und Autonomie, um die Möglichkeit der Freiheit in einer Gesellschaft, in der Freiheit vor allem die Freiheit ist, nach Feierabend im Supermarkt die freie Produktwahl zu haben.

Wir befinden uns irgendwo in den 80er Jahren in der schwäbischen Provinz: Höppner, der den Zurechtweisungen und Schlägen des »fiesen Freunds« seiner Mutter zu entkommen trachtet, ist mit seinem Schulfreund, dem Bauernsohn Frieder, der einen Suizidversuch und einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich hat, in ein bis dahin leerstehendes altes Haus in der Dorfmitte gezogen, in dem früher Frieders Großvater lebte. »Meine Eltern wollen nicht, dass ich allein dort wohne«, sagt Frieder, der soeben aus der Psychiatrie entlassen wurde. »Ich will mal was anderes sehen als lauter Psychos und Depris.« Ein mehr als verständlicher Wunsch eines jungen Menschen, der inmitten der schwäbischen Provinz aufwächst.

Inspiriert von einem Popsong der britischen Band Madness, nennen die beiden ihren Zufluchtsort, dessen Bewohnerschaft rasch um weitere Außenseiter wächst, »Our House«: Höppners libertäre Ansichten pflegende Freundin Vera, der Schwule Harry, die ihrem reichen Elternhaus entflohene Cäcilia und die als Brandstifterin auffällig gewordene Pauline. »Jetzt sind wir sechs, wie eine kleine Packung Eier«, sagt Höppner irgendwann. Gelebt wird ein experimentelles Leben, mit dem erfolgreich die Unabhängigkeit von der Erwachsenenwelt geprobt und simuliert wird: Essen im Supermarkt klauen, gemeinsam trinken, gemeinsam feiern, die Nächte durchdiskutieren, über das Leben, die Liebe, den Tod. »Our house it has a crowd / There’s always something happening / And it’s usually quite loud«, singen Madness in »Our House«. »Auerhahn, Auerochs, Auerhaus«, sagt ein Nachbar, ein Greis, der des Englischen nicht mächtig ist, aber dennoch zu verstehen scheint, was hier los ist: Da gibt es jetzt ein »Auerhaus«, einen neuen Ort, wie es ihn so im Dorf bisher nicht gab, an dem die Regeln andere sind als die gewohnten.

Bei der nun in den DT-Kammerspielen zu sehenden Bühnenfassung von »Auerhaus« hat man erfreulicherweise der Versuchung widerstanden, die Fabel des Romans in biederer Form eins zu eins nachzuerzählen oder schlimmstenfalls gar in 80er-Jahre-nostalgischer Form auf die Bühne zu bringen, sie zu illustrieren wie eine sentimentale Coming-of-Age-Geschichte. Es ist kein gut gemeintes, pseudofreches, pädagogisches Ohnsorg-Theater für Jugendliche daraus geworden und auch kein postmodernes Castorfsches Zitatschnipselcollage- und Brülltheater.

Vielmehr hat man Bov Bjergs Roman, den man auch als Meditation über die Frage, wie ein gelingendes Leben in einer Gesellschaft voller Zwänge aussehen kann, lesen kann, ernstgenommen, die Kunstfertigkeit, mit der er seine Geschichte erzählt, nicht ignoriert, die Erzählung nicht als Textfriedhof benutzt, von dem man sich nach Belieben bedienen kann. Man hat sich auf die jugendlichen Hauptfiguren konzentriert, ihre Wünsche, ihren Frust, ihr Denken, ihre Konflikte, und sich darin versucht, den Humor und die sprachliche Präzision der Dialoge, die die Romanvorlage auszeichnen, auf die Bühne zu retten. Und ein bisschen Komödie, ein bisschen Slapstick hinzugegeben.

Insbesondere das Bühnenbild, für dessen Kargheit und Simplizität man dankbar sein muss, weil auch dieses alle Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz auf die Figuren und Dialoge lenkt, ist eine gelungene Allegorie auf die Ödnis und Tristesse unserer traurigen Realität: Eine Bühnenrückwand sehen wir, und einen schwarzen Fußboden. Das muss reichen.

Ein Stück Holz kann ein Flugzeug sein, weiß ein Kind. Und so hat man auch darauf verzichtet, originalgetreu eine chaotische 80er-Jahre-WG-Ausstattung auf der Bühne nachzubilden. Stattdessen schneiden die Darsteller mit einem Teppichmesser ein großes viereckiges Stück aus dem schwarzen Bühnenbodenbelag und schütten dort Sand auf: Dort, an dieser Stelle, befindet sich das Auerhaus, vor dessen Betreten man sich die Schuhe auszieht, allerdings nicht aus Gehorsamkeit, um den Fußboden nicht zu beschmutzen, sondern um barfuß in die Freiheit zu steigen, in das selbstbestimmte, nicht mehr von der Erwachsenenwelt reglementierte Leben, in die Utopie. Unterm Pflaster liegt der Strand. Man muss ihn nur finden oder ihn sich schaffen. »Wenn die Sachen brennen«, sagt Pauline, »ist es, wie wenn die Flammen ein verhunztes Bild übermalen.« Die Vertreter jener Institutionen hingegen, die eine Bedrohung für diese Freiheit darstellen, tragen in der »Auerhaus«-Inszenierung Masken, die sie als Repräsentanten des grauen Alltags und der Repression ausweisen: die reaktionären Kleinbürger, die alten Nazis, die Bundeswehr.

Auch die Zuschauer sollen sich an jene Freiheit erinnern, die sie irgendwann im Laufe ihrer Existenz vergessen, verlernt oder hinter sich gelassen haben. Mindestens ein Mal im Lauf der Inszenierung werden sie daran erinnert, dass das Theater in seinen besten Momenten auch immer freies Spiel und Feier des Moments ist, eine Party, nicht nur rituelle Verrichtung und bürgerliche Zwangsveranstaltung zur Belehrung und Erbauung.

In dem Song »Our House« heißt es auch: »I remember way back then when / Everything was true and when / We would have such a very good time / Such a fine time / Such a happy time / And I remember how we’d play / Simply waste the day away.«

Nächste Vorstellungen: 1., 3. und 7. Juni

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