Das Unerträgliche an deutschen Geschichtsdebatten

Kein Schritt vorwärts ohne zwei zurück - Leo Fischer über die Aufarbeitung der Geschichte

In dem Dialekt, in dessen Hörweite ich große Teile meiner Kindheit und Jugend verbringen musste, hat das Wort »aufarbeiten« eine hübsche Nebenbedeutung - nämlich: »durch häufigen oder unsachgemäßen Gebrauch ruinieren«. Leider hat es diese Nebenbedeutung nicht in die Hochsprache geschafft, sonst wären Aufsätze wie der Adornos zur »Aufarbeitung der Vergangenheit« noch einmal zu lesen, wäre die deutsche Geschichte auch vor den Ereignissen der vergangenen Woche als vollends aufgearbeitet zu betrachten.

Da verabschieden Union und SPD ein Gesetz zur Rehabilitierung all der Männer, die wegen des Naziparagrafen 175 als Schwule verfolgt wurden - und schafften es nicht, nicht auch noch in dieses Gesetz eine Prise urdeutscher Perfidie einfließen zu lassen. Rehabilitiert werden demnach nur solche Männer, die gleichgeschlechtliche Beziehungen zu Leuten über 16 Jahren hatten; das gesetzliche Schutzalter liegt jedoch nach wie vor bei 14 Jahren. So hat man den »Jugendschutz«, der seinerzeit zur Verteidigung des Paragrafen 175 angeführt wurde, als Argument zusammen mit den Schwulen rehabilitiert - Jugendliche müssen eben nach wie vor stärker vor den Homos geschützt werden als vor Ottonormalmissbraucher; dem Stammtisch, der Schwule schon immer als eigentlich pädophil erkannte, wurde so indirekt auch noch recht gegeben. Nicht rehabiliert hingegen werden diejenigen, gegen die lediglich Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden - als wären durch solche Verfahren weniger Karrieren, Familien, Lebensentwürfe ruiniert worden als durch Verurteilungen. Man kann eben hierzulande Unrecht nicht aufarbeiten, ohne auch den Opfern noch eine Kopfnuss mitzugeben.

Gleichzeitig gelingt es der SPD, die »Ehe für alle« einerseits in der Regierung zu torpedieren und gleichzeitig stolz als Wahlkampfversprechen zu führen. Alle Anträge über die »Ehe für alle« in der aktuellen Koalition wurden wieder und wieder vertagt - nicht etwa, weil die böse CDU das so wollte, sondern weil die SPD auf Stimmenfang gehen will bei jenen LGBT-Leuten, die dieses niederträchtige Manöver nicht durchschauen: Denn eben erst hat die Bundes-SPD versprochen, in den ersten 100 Tagen einer Kanzlerschaft Schulz die »Ehe für alle« einzuführen. Unter Merkel IV hingegen kann man das Ding dann ruhig auch wieder auf Eis legen, um weiter die CDU zu düpieren. Für solche Spielchen sind der SPD die Rechte der Bürger gerade gut genug; die Rechte derjenigen, die man vor noch nicht einmal 80 Jahren wegen ihres bisschen Andersseins zu Tode folterte; die Rechte derjenigen, die die russischen Busenfreunde der SPD in Tschetschenien gerade zu Freiwild erklärt haben.

Kopfnüsse für die, die dem deutschen Vernichtungswillen gerade noch entkommen sind, gab es diese Woche auch im Fernsehen. In einem beispiellosen Tiefpunkt der Mediengeschichte schaffte es der WDR, der zunächst die Antisemitismusdoku »Auserwählt und ausgegrenzt« unter den fadenscheinigsten Vorwürfen kassiert hatte, diese doch noch auszustrahlen; nicht jedoch, ohne in einer von vorn bis hinten unwürdigen Diskussion bei Maischberger über sie Tribunal zu halten. Da faselte Norbert Blüm über »Semiten«. Da gab es Experten, die muslimische Jugendliche keine KZ-Gedenkstätten besuchen lassen wollten, weil es sich ja um ein deutsches Problem handele. Da gab einen »Faktencheck«, der mit inquisitorischer Penetranz die Autoren des Films mit Unterstellungen konfrontierte, die schon auf rein kollegialer Ebene unerträglich waren.

Es ist halt ein Hakenkreuz mit dem Antisemitismus: Die Vorstellung, es könne im aufgearbeiteten Deutschland einen solchen geben, greift den Nationalstolz so sehr an, dass man ihn umgehend an den Ankläger zurückgeben muss; dieser wird zum Verräter, zum Feind des guten Gewissens. Hier müssen schwerste mediale Geschütze aufgefahren werden - es geht ums Deutschlands Ehre, da kann kein Faktencheck streng genug sein. Andererseits will man im Ausland auf keinen Fall den Anschein erwecken, in Israel nicht auch immer das Übel der Welt erkannt zu haben; so kommt es zu dem moralisch reinen, von historischer Schuld befreiten Kunstbegriff »Israelkritik«; ein Wort, um das uns die ganze Welt beneidet.

Ob bei den Schwulen, ob bei den Juden - man kann in Sachen Aufarbeitung keinen Schritt vorwärts machen, ohne zwei zurückzugehen. Vielleicht sollte zu diesen Themen in diesem Land generell der Mund gehalten werden. Es kommt dabei doch nur immer übler Geruch heraus.

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