Die Folgen von Grenfell Tower

Eine Entbürokratisierung, die den Brandschutz aushebelt, weil er kosten- und zeitintensiv ist, geht zu Lasten der Armen

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach dem tragischen Hochhausbrand im Londoner Stadtteil North Kensington, bei dem knapp 80 Mieter eines Sozialbaus ums Leben kamen, waren die Entscheidungsträger alarmiert. Schnelle Hilfe sei jetzt selbstverständlich Ehrensache. Man wolle nicht bürokratisch sein. Die Leute nicht alleine lassen. Das ist natürlich im ersten Augenblick Labsal für alle sparpolitischen Sozialromantiker. Wenn es hart auf hart kommt, so können sie wieder mal behaupten, dann rücken Gemeinwesen eben doch zusammen. Sozialabbau hin, Entbürokratisierung her. Not macht verbinderisch, sagt schließlich schon der Volksmund so oder so ähnlich.

Sie täuschen sich gewaltig. Diese Großzügigkeit ist nämlich nicht als Ultima Ratio Beleg dafür, dass der Abbau nach neoliberalen Muster trotzdem strukturelle Sozialverträglichkeit oder Menschlichkeit sicherstellt. Es läuft umgekehrt. Denn diese beiden Entitäten sind ja gerade eben nicht mehr in die Struktur des Nachtwächter- und Suppenküchenstaates verwoben. Sie kommen nur dann zum Einsatz, wenn es die Ungunst der Stunde es abverlangt. Metaphorisch gesprochen schwenkt er erst die Suppenkelle, wenn es Hungertote gibt und nicht schon in dem Augenblick, wo jemand am Rande einer möglichen Hungerzeit steht.

Schon im Vorfeld wusste die britische Regierung, dass ihr penibel eingehaltener Thatcherismus ganz krude Blüten trieb. So zum Beispiel beim Brandschutz, den man unter dem Label Bürokratisierung verbuchte, womit er neuen, vereinfachten Regularien unterzogen wurde. Denn Entbürokratisierung, so betete es seit den Achtzigern das neoliberale Profitunser, sei ein Schritt in die richtige Richtung. Der Bürokrat sei nämlich die Fettzelle des gemästeten Staates, die sich direkt am Wohlstandsbauch festsetzt – der schwerfällige Staat solle aber gefälligst erschlanken und daher den Gürtel enger schnallen.

Mit diesen Sprachbildern haben die Reformer den Abbau von staatlicher Intervention in gesellschaftliche Belange skizziert. Das Dicke kam dabei schlecht weg, man stimulierte die Frames, die Fettleibigkeit mit Behäbigkeit und Maßlosigkeit verbanden und spann damit den Staatsabbau in einen medizinisch-ethischen Rahmen. Die erfolgreiche Diät war hingegen plötzlich nicht nur ein Thema für ein »Hausfrauenmagazin«, sondern das erklärte Ziel aller Politik. Und weil ehemals Dicke, die jetzt mit ihrer zu großen Jeans von dunnemals abgelichtet werden, so unglaublich erfolgreich wahrgenommen werden, gratulierte man auch dem diätischen Staat für seine Kaloriendisziplin.

Was die Reformer in solchen Sprachbildern dann nicht thematisch bedient haben: Sie betonten mit keiner Silbe, dass dieser angeblich so fette Staat auch etwas leistete. Nämlich Garantien, Abwägbarkeiten und Versprechungen. Er stellte aber all das mit seinen Regularien und Verordnungen her. Sicher wirkte er dabei oft schier unbeweglich - und klar, wir alle kennen Bürokraten und wissen nur zu gut, wie sie sich manchmal auf einen Paragraphen festschnallen und dabei wie Ahabs der Rechtslage in die Fluten stürzen. Aber dieser bürokratische Staat, er stellte sicher: Und zwar bei Schicksalsschlägen, Ungerechtigkeit und Verunsicherung.

Diese drei Positionen sind nun nach dem Brand in London allesamt mit Füßen getreten worden. Eine Entbürokratisierung, die den Brandschutz aushebelt, weil er kosten- und zeitintensiv ist, die geht zu Lasten der Armen. Reichen ist die Entbürokratisierung gleichgültig, sie zahlen einfach für den besten Standard und sichern sich so gegen Brände ab. Falls es dann doch brennt: Die Feuerschutzversicherung regelt den Rest. Den Staat zu verschlanken war ja nie als Gerechtigkeitsmaßnahme geplant. Einen Staat als Garantiemacht brauchen nur diejenigen, die kein dickes Bankkonto als Garantie haben.

Der Staatsrückzug war der erste Schicksalsschlag für Großbritanniens ärmere Schichten. Der Brand neulich war nur einer von vielen Folgeschlägen, die diese Staatsreform zeitigte. Wer jetzt noch so tut, als habe die britische Regierung ein Lob für ihr unkomplixiertes Helfen verdient, dem sei gesagt: Mit mehr sturen Bürokraten in den Behörden, die ein bisschen vogonenhaft auf Verordnungen und Gesetze pochen, wäre das alles vielleicht nicht passiert.

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