Bildung um jeden Preis

Südkoreaner zahlen mit ihrer Kindheit für einen Platz im Hamsterrad

  • Tino Brömme
  • Lesedauer: 5 Min.

Yun Seung Hee hat keine Zeit für das olympische Theater. »Ich sehe mir die Clips hinterher an, wenn wir etwas gewonnen haben«, sagt die Gymnasiastin, deren Tagesplan keine großen Sprünge zulässt. Yun ist im letzten Jahr vor der Hochschulzulassungsprüfung. Das ist ein nationales Ereignis jeden November, es wird im Fernsehen übertragen und die fieberhaft erwarteten Ergebnisse der Schüler werden online veröffentlicht und in Rankings verglichen. Am Prüfungsvormittag verordnet die Regierung Flugsperren und hält die Busfahrer an, langsam zu fahren. Es gibt Internate, wo sich neun Monate lang drillen lässt, wer die Prüfung wiederholen will. Dort ticken im Atrium Uhren, die die Tage bis zum »D-Day« rückwärts zählen.

Der Druck auf die Schüler ist enorm. Ein Fünfzehnstundentag ist üblich. Der Unterricht beginnt um 7.45 Uhr und endet um 15 Uhr. Danach geht es in private Nachhilfeschulen, sogenannte Hagwons, die gut und gern bis 23 Uhr dauern können. Yuns jüngere Geschwister haben den Leistungsdrang ihrer Eltern - ein Gemisch aus Familienehre, Ehrgeiz und Zukunftsangst - schon ganz verinnerlicht. Spielen und Freunde müssen da hintan stehen.

»Wenn ich es nicht auf eine der SKY-Universitäten schaffe, werde ich ein schweres Leben haben«, sagt Myong-Ok, die in die vierte Klasse geht. »Ich möchte einmal Raumfahrtingenieurin werden.« Auf die drei Topuniversitäten des Landes - SKY steht für Seoul National, Korea und Yonsei Universität - schaffen es nur ein Promille der Bewerber. Der Ansporn sorgt jedoch dafür, dass Korea in internationalen Studien immer vorn liegt. In der letzten PISA-Umfrage lag das Land in Mathematik und Lesen auf Rang 8, in Naturwissenschaften auf Platz 11.

Koreas Bildungsniveau ist beeindruckend, über 80 Prozent eines Jahrgangs besuchen eine Universität. Nur ein Fünftel der Hochschulen ist staatlich, der »Hagwon«-Sektor ist mittlerweile eine Bildungsindustrie mit umgerechnet 20 Milliarden Euro Einnahmen im Jahr. 100 000 solcher Privatschulen gibt es, 25 000 davon allein in Seoul, und drei von vier Kindern besuchen sie. Elternpaare wenden mitunter ein Drittel ihres Einkommens dafür auf.

Einige Privatlehrer werden wie Rockstars beworben und bezahlt. Sie werben mit knalligen Postern, Videos und Shows und signieren Lehrbücher für ihre begeisterten Fans. DYB (»Do Your Best«) ist eine der bekanntesten »Hagwons«, gegründet vor 25 Jahren, mit 19 Filialen und 45 Millionen Euro Umsatz.

Doch der Boom hat Risse. Seit Jahren versucht die Regierung, durch staatliche Angebote dem Lernfanatismus Einhalt zu gebieten, denn der Wirtschaftsgigant Südkorea steht an einem Wendepunkt. Die Arbeitslosigkeit wächst, viele Koreaner wollen das Land verlassen oder nicht wiederkehren, die Zahl der Selbsttötungen unter Jugendlichen und Alten ist die höchste der Welt. Das Land ist tief gespalten: nicht nur in Nord und Süd, sondern auch in arm und reich und Stadt und Land. Die Einzigartigkeit der riesigen Investitionen, die in die olympischen Winterspiele in Pyeongchang nahe der nördlichen Grenze geflossen sind, macht dies deutlich. Nie und nimmer, kritisieren viele, wäre dorthin ohne die Spiele eine neue Zugstrecke gebaut worden.

Viele über 60-Jährige nehmen sich das Leben, weil sie ihrem Nachwuchs, der sie auf dem Land zurückgelassen hat, nicht länger zur Last fallen wollen. Dort steigen die Scheidungsraten, die Geburtenraten fallen, mehr als die Hälfte der mittleren Einkommensgruppen sind verschuldet - denn auch wer es auf die Top-Unis schafft, muss umgerechnet bis zu fünftausend Euro Studiengebühren pro Semester schultern. Das geht meist nur mit Krediten.

»Die meisten meiner Mitschüler gehen jeden Tag durch dieselbe Tretmühle«, erzählt ein Student, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. »Ich schlafe nur drei Stunden am Tag, und selbst mit Einsern lassen Stress und Konkurrenzdruck nie nach. Werde ich es an die Uni meiner Wahl schaffen? Was ist in 20 Jahren? Bekomme ich einen Job? Früher habe ich nicht verstanden, warum Leute sich das Leben nehmen. Jetzt habe ich selbst Depressionen und denke mehrmals am Tag daran.«

Teenager sind die andere große gefährdete Gruppe in Südkorea, der Freitod ist die häufigste Todesursache unter Zehn- bis 19-Jährigen. Viele leiden unter Depressionen, Ess- und Schlafstörungen. Statt der ratsamen neun schlafen sie fünfeinhalb Stunden pro Nacht. Alkoholismus fällt unter »Selbstmedikation«, Trinken wird gesellschaftlich eher akzeptiert als die Behandlung psychischer Krankheiten. Deshalb setzt Südkorea auch den weltweiten Rekord beim Konsum von Spirituosen.

Das ist der Preis des Wirtschaftswachstums seit den letzten Olympischen Spielen in Südkorea 1988. Jobs bei Samsung, Hyundai und den anderen mächtigen Konzernen werden rarer. Und selbst die, für die sich dieser Karrieretraum nach dem Studium erfüllt, leben in einem hierarchischen, frauenfeindlichen Arbeitsumfeld. Lange Arbeitstage werden mit niedrigen Löhnen vergolten, die Preise sind höher, die Kaufkraft niedriger als in den USA.

Die das Glück haben, in der Ferne zu studieren, haben bei ihrer Rückkehr Schwierigkeiten, sich wieder einzugliedern, während ihre Arbeitsdisziplin in der ganzen westlichen Welt hoch angesehen ist. Deshalb ist der Braindrain zu einem großen Problem geworden, zwei Drittel der im Ausland Promovierten ziehen es vor, nicht zurückzukehren.

Die in Berlin lebende Künstlerin SEO verließ gleich nach dem Studium Südkorea, studierte ab 2001 bei Georg Baselitz an der Hochschule der Künste. »Damals in der Grundschule und dann auch am Kunstgymnasium hieß es immer nur lernen, lernen, lernen«, erzählt sie. »Fakten und Techniken - nie Wege, sich selbst auszudrücken. Kreativität und Selbstbestimmtheit spielten keine Rolle, das lernte ich erst in Deutschland.«

Die meisten Kinder in Deutschland haben es besser, glaubt sie, sie haben Zeit für sich selbst, werden zum Mitdenken erzogen, können die Natur genießen. In Südkorea gibt es für die Mehrheit keine richtige Kindheit, sie leben die kapitalistische Dystopie schon heute.

Tino Brömme, geb. 1970 in Gera, ist seit 2008 Herausgeber des wissenschaftspolitischen Branchendienstes ESNA European Higher Education News, überdies freischaffender Journalist, Tischler, Dolmetscher aus dem Englischen und Italienischen sowie Deutschtrainer für Unternehmen in Berlin.

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