Die Geister selbst gerufen

Studie verweist auf den Zusammenhang zwischen Sozialabbau und Rechtspopulismus

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine der wichtigsten Lehren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Erkenntnis, dass Menschen, deren Existenz bedroht ist, sich radikalen Ideen, die Lösungen für ihre Probleme anzubieten scheinen, leichter zuwenden. So sind Hitler und der Faschismus kaum denkbar ohne den Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkeit, des Abstiegs des Kleinbürgertums und des radikalen Sparkurses der deutschen Reichsregierung. In der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs war man sich des fragilen Gleichgewichts der sozialen Welt sehr bewusst, und auch die bürgerlichen Parteien verfolgten nicht zuletzt angesichts der Blockkonfrontation eine Politik des sozialen Ausgleichs.

Diese reichte in Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein. Es war die SPD, die dann 2005 mit der Agenda 2010 und der Einführung von Hartz IV den Konsens einer mehr oder weniger befriedenden und den Kapitalismus zähmenden Sozialpolitik aufgab. In den angelsächsischen Ländern hatte der Neoliberalismus bereits in den 1980er Jahren seinen Siegeszug angetreten. Hartz IV bewirkte, was man in den 1970er Jahren noch für unmöglich gehalten hätte: die Rückkehr der nackten Angst vor dem sozialen Absturz.

Langzeitarbeitslose fanden sich nun nach nur einem Jahr auf Sozialhilfeniveau wieder, garniert mit Entrechtungen und einem Strafkatalog, der bis zum völligen Entzug der Existenzgrundlage reicht. Die Armenhaus-Ideologie des 18. Jahrhunderts kehrte als das Märchen vom »Fordern und Fördern« im 21. Jahrhundert zurück.

Doch jetzt rächt sich die Abkehr vom Konsens des gesellschaftlichen Zusammenhangs. »Diejenigen, die die Reformen verantwortet haben, müssten eingestehen, dass die entsichernde Individualisierung von großen sozialen Risiken ein Irrweg war.« Dieses Fazit der Agenda 2010 und darin Hartz IV ziehen Sigrid Betzelt, Soziologieprofessorin in Berlin, und Ingo Bode, Professor für Sozialpolitik in Kassel. In ihrer Studie über »Angst im Sozialstaat - Hintergründe und Konsequenzen«, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung (Wiso direkt 38/2017) veröffentlicht wurde, gehen sie dem Zusammenhang von politisch verursachten Ängsten in der Bevölkerung und dem Anstieg von Aggressionen gegen Minderheiten und dem Aufstieg des Rechtspopulismus nach.

So beobachten die beiden Sozialwissenschaftler spätestens seit den rot-grünen Sozialreformen Tendenzen der sozialen Entsicherung, die verschiedene Teile der Bevölkerung betreffen - etwa Menschen, die vom Abrutschen in Hartz IV bedroht sind, aber auch bei den Mittelschichten, wo etwa ein Abstieg im Alter befürchtet wird. Wenn die eigene Existenz als brüchig erlebt wird, weil man prekär beschäftigt ist und um ein auskömmliches Leben kämpfen muss oder weil man sich auf den Sozialstaat oder auch die private Vorsorge nicht mehr verlassen kann, dann entstünden Ohnmachtsgefühle.

Die Autoren beschreiben in ihrer Studie die teilweise Befreiung der Menschen von Marktzwängen durch den Ausbau des Sozialstaates über sozialstaatliche Institutionen (wie zum Beispiel die Erzwingung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter in den 1950er Jahren durch einen Massenstreik) in ihrer Wirkung als »Angsthemmer«. Die Absicherung gegenüber Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter sowie eine gewisse Stetigkeit individueller Wohlfahrt reduzierte die Existenzangst der Lohnabhängigen im Wohlfahrtskapitalismus. Dieses Arrangement sei aber mittlerweile brüchig geworden, so die Autoren. Die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse unter dem Druck von Globalisierung und Neoliberalisierung habe der Kapitalseite ein wachsendes Drohpotenzial und den Lohnabhängigen neue, teilweise existenzielle Risiken gebracht. Die »Reform«-Politik von Rot-Grün in den 2000er Jahren hat zu dieser Entwicklung beigetragen, indem sie die Menschen wieder vermehrt den Marktkräften auslieferte. Das Fazit der Sozialwissenschaftler: »Der reformierte Sozialstaat wurde so zum Angsttreiber.« Angst entsteht, so die Psychologie, wenn Menschen Bedrohungen ausgesetzt sind, aber dafür keine Gegenmaßnahmen treffen können. Dies steigert sich noch, wenn man unter dem Druck steht, handeln zu müssen, aber nicht weiß, wie. Der Umbau von Sozialsystemen wie bei Hartz IV kann derartige Ängste auslösen, zumal, wenn sie mit zunehmenden Risiken am Arbeitsmarkt auftreten.

Und Gleiches bewirken auch Medienkampagnen, die darauf abzielen, die Bevölkerung zu beeinflussen. Beides, so die Autoren, sei bei der Agenda 2010 geschehen: Angstmache durch die Medien und durch die Behörden, um die »Reformen« politisch umzusetzen.

Die Angstmobilisierung sei insofern erfolgreich gewesen, als die meisten Menschen sich den neuen Verhältnissen angepasst hätten, obwohl es klare Mehrheiten für mehr soziale Sicherheit gebe. Anpassung, so die Autoren, könne heißen: »Lethargie bei der Altersvorsorge, Aufopferung im prekären Job zur Vermeidung des Schlimmsten, Verzicht auf Grundsicherungsleistungen wegen ihrer Stigmatisierungseffekte.« Oder auch Wutreaktionen auf Einwanderung. Und die Autoren betonen, dass der mögliche Abstieg in Hartz IV auch jene verunsichert habe, die stabil beschäftigt waren beziehungsweise sind und über mittlere Einkommen verfügen.

Wegen der momentan guten Arbeitsmarktlage sei dieser Effekt der Angstmobilisierung gerade weniger stark ausgeprägt, könne aber, so die Warnung, beim geringsten Krisenanzeichen rasch wieder eintreten. Allgemein bedeute Sozialabbau: »Jeder ist vermehrt auf sich selbst verwiesen, also schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt.«

Wenn die Angst in der Gesellschaft steigt, hat das Folgen. So sehen die Autoren einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Ängste und dem Aufstieg des Rechtspopulismus und zunehmender Fremdenfeindlichkeit: Vieles spreche dafür, dass sich die Wahlergebnisse der AfD aus tiefer liegenden Verunsicherungen breiter Kreise der Bevölkerung speisen, die etwa durch die Infragestellung und den Abbau des deutschen Sozialmodells entstanden seien. Die Angst, die politisch auch mit Hilfe von Medienkampagnen eingesetzt wurde, um die Agenda 2010 durchzudrücken, macht sich jetzt quasi selbstständig und richtet sich gegen die etablierten Parteien. Gleich dem Zauberlehrling von Goethe werden diese nun die Geister, die sie riefen, nicht mehr los.

Um diese Spirale der Angst zu überwinden, seien mehr als nur kleine Korrekturen etwa bei Hartz IV notwendig, so die Autoren. »Erst wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass es unveräußerliche Prinzipien sozialer Sicherheit gibt, stehen auch kleine Schritte in diese Richtung für eine Marschroute weg von der Angst«, so ihr Fazit.

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