Der Traum liegt hinter dem Zaun

Migranten warten in Marokkos Wäldern auf ihre Chance, nach Europa einzureisen

  • Simon Kremer
  • Lesedauer: 4 Min.

Rabat. Noch vor dem ersten Versuch muss der Traum von Europa erst einmal warten. Das linke Schultergelenk ist verstaucht, der Arm muss einige Wochen in einer Schlinge vor dem Bauch getragen werden. So kann sich Suleiman nicht auf ein Boot ziehen oder die sechs Meter hohen Zäune an der spanischen Grenze hoch klettern.

Frustriert und mit grimmigem Gesicht sitzt er zwischen hohen Pinien in einem kleinen Zeltlager auf einem Hügel bei Nador. Schlafsäcke und Decken trocknen an Leinen in der Sonne. Von der marokkanischen Stadt aus kann er hinter den Reihen von Grenzzäunen Melilla erkennen. Die spanische Exklave hat neben der zweiten Exklave Ceuta die einzige Landgrenze Europas mit Afrika. Für viele Migranten sind die beiden Städte ein Traum - und ihre Grenzen oft das Ende einer wochenlangen Reise.

Immer wieder versuchen Gruppen von Flüchtlingen, die Grenzzäune zu stürmen. Zuletzt häuften sich Fälle, in denen Migranten auch mit Booten versuchten, die fast unüberwindbaren Zäune der Landgrenze über das Mittelmeer zu umfahren. Anfang Februar starben 20 Menschen, als ihr Boot kenterte.

Seit dem umstrittenen Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei sind die Ankunftszahlen in Europa deutlich zurückgegangen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex vermeldete kürzlich, dass im vergangenen Jahr insgesamt 204.719 Flüchtlinge in Europa angekommen seien. Ein Rückgang von 89 Prozent im Vergleich zum Jahr 2015. Gleichzeitig stellte Frontex auf der westlichen Mittelmeerroute über Marokko die höchsten Zahlen illegaler Grenzübertritte seit Aufzeichnung der Daten 2009 fest.

»Der Gesamtdruck auf die EU-Außengrenzen bleibt insgesamt hoch«, sagte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri. Rund zwei Drittel der illegal nach Europa gekommenen Migranten stammten aus Afrika.

Die Zeltstädte in den Wäldern um Nador sind kein neues Phänomen. Zwischen 700 und 2000 Flüchtlinge halten sich dort nach marokkanischen Behördenangaben auf. »Man muss doch von etwas leben können«, sagt Suleiman. »Ich habe drei Kinder zuhause in Guinea, das vierte ist auf dem Weg. Man muss doch seine Familie ernähren können.«

Suleiman schimpft auf die Welt: Auf die Landsleute, die ihm nichts von den Schwierigkeiten erzählt und das Paradies versprochen haben; auf die Marokkaner, die Schwarze angriffen und auf der anderen Seite Geschäfte mit ihnen machten; und auf die marokkanische Polizei, die ihn zusammengeschlagen habe, als er sich aus dem Wald in die Stadt getraut habe, weswegen seine Weiterreise jetzt warten müsse.

»Es gibt kaum staatliche Hilfen«, sagt Boubaker Diallo, der für die Hilfsorganisation Asticude die Flüchtlinge vor allem medizinisch betreut und ihnen mit den Behörden und beim Arzt hilft. »Meistens endet die Reise hier in den Wäldern, die Zäune sind kaum noch zu überwinden.« Ab und an käme die Polizei vorbei, zerstöre die Lager und vertreibe die Flüchtlinge.

Über die westliche Mittelmeerroute kamen nach Frontex-Angaben im vergangenen Jahr 23.143 Menschen. Das ist immer noch weniger als über die Libyen-Route oder das östliche Mittelmeer, der Anstieg sei jedoch frappierend, sagt Stefano Torelli vom European Council on Foreign Relations. Neben Migranten aus Guinea, Gambia oder der Elfenbeinküste seien es auch immer mehr Menschen aus Marokko, Algerien und Tunesien.

»Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Nordafrika haben sich zusehends verschlechtert«, sagt der Migrationsexperte. »Es kam zu politischen Krisen.« In einigen ländlichen und abgeschiedenen Regionen in Marokko, Algerien und Tunesien gab es in den vergangenen Monaten teils große Proteste gegen die Regierungen. Die Menschen fühlten sich immer mehr im Stich gelassen - trotz demokratischer Reformen wie etwa in Tunesien.

Und auch der Migrationsdruck aus den Subsahara-Staaten werde größer: »Die EU begegnet der Migration mit kurzfristigen Maßnahmen und Grenzkontrollen«, sagt Torelli. Die EU müsse anerkennen, dass Migration aus Afrika ein strukturelles Phänomen sei. Es benötige langfristige Maßnahmen in den Herkunftsländern, die die Lebensbedingungen verbesserten, nicht populistischer Reaktionen.

Denn auch trotz aller Probleme und verstauchtem Arm will Suleiman die Flucht Richtung Europa weiter in Angriff nehmen. »Alles ist besser als die Heimat.« Das Mittelmeer glitzert in der Sonne und auf den Zäunen blinken die scharfen Klingen des Stacheldrahts. Ein paar Tage noch, sagt er, dann wolle er es versuchen. Unter Schmerzen hebt er den Arm in der Schlinge ein wenig - und lächelt. dpa/nd

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