Eine internationalistische Antwort

Aus der Rede von Gregor Gysi auf dem LINKE-Parteitag in Leipzig über den Streit zu Flucht und Migration

  • Gregor Gysi
  • Lesedauer: 9 Min.

Wir leben in einer schwieriger werdenden Zeit. Wie wird die Entwicklung weitergehen? Werden Kriege täglich noch selbstverständlicher, als sie schon jetzt erscheinen? Wie wird sich der Handelskrieg der USA gegen Europa weiter entwickeln? Welche Folgen hat er für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa - und in den USA? Wird sich die neoliberale Entwicklung des Kapitalismus fortsetzen, das heißt der Niedriglohnsektor, die prekäre Beschäftigung ausgebaut, die tiefe soziale Spaltung noch mehr verstärkt werden? Bleibt es bei der Deregulierung für die großen Konzerne und Banken? Kann die Klimakatastrophe noch verhindert werden? Wie sieht es mit der Bekämpfung des millionenfachen Hungertodes, Leids und von Not weltweit aus, wie erfolgreich können wir Armut in Deutschland, Europa und weltweit überwinden?

Es gibt bei der Linken in Europa und in Deutschland, jene, die vornehmlich nationale, und jene, die vornehmlich internationalistische Antworten suchen und geben. Wir müssen in Deutschland und in Europa zunächst lernen, mit den Realitäten umzugehen. Wir haben eine Weltwirtschaft, wir haben europäische Konzerne, wir haben eine ökologische Klimafrage und andere Nachhaltigkeitsmomente, die überhaupt nur noch international und nicht national zu lösen sind. Eine wichtige Frage stellt sich neu im sozialen Bereich. Die Konzerne und großen Banken haben auf allen fünf Kontinenten Arbeitskräfte, Dienstleistungs- und Produktionsstätten.

Die Rede

Seit etlichen Monaten schwelt die Auseinandersetzung in der Linkspartei um den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten, die Haltung zu offenen Grenzen sowie die Frage, wie nach rechts abgewanderte Wähler zurückgewonnen werden können. Namentlich zwischen der Fraktionschefin im Bundestag, Sahra Wagenknecht, und dem saarländischen Fraktionsvorsitzenden Oskar Lafontaine einerseits sowie den beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger andererseits hat sich der Konflikt zugespitzt. Bevor sich der Streit auf dem Leipziger LINKE-Parteitag am Wochenende in einer scharfen, außerplanmäßig geführten Debatte entlud, hatte der Präsident der Europäischen Linken, Gregor Gysi, in seiner Rede für konsequent internationalistische Antworten auf soziale Fragen plädiert. Wir dokumentieren hier eine leicht gekürzte Fassung der Gysi-Rede. Der volle Wortlaut ist im Internet hier zu finden.

Die soziale Frage war immer schon auch eine internationale, aber stand vorwiegend national. Die großen Konzerne und Banken haben aber dafür gesorgt, dass die soziale Frage nun sichtbar zu einer Menschheitsfrage geworden ist. Sie haben den weltweiten Lebensstandardvergleich ermöglicht durch ihre Beschäftigten, die Handys, das Internet, kurz durch die Globalisierung. Und die einzige Antwort der Regierenden lautet Abschottung. Wenn die Linke einen Wert haben will, muss sie eine andere Antwort auf die soziale Frage als Menschheitsfrage suchen und finden.

Es gab und gibt für mich vor allem vier Gründe, mich politisch links zu orientieren und auch links zu bleiben. Der erste Grund war und ist für mich die Frage von Krieg und Frieden. Ich weiß, dass es leider Ausnahmen in der Geschichte der Linken gab. Im Kern war die Linke aber immer eine Friedensbewegung.

Der zweite Grund bestand und besteht für mich in der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Das bedeutete für mich nie eine Gleichheit für alle. Diese Gerechtigkeit akzeptiert Unterschiede je nach Verantwortung, Fleiß, Qualifikation und anderen Kriterien. Aber die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit will Armut ebenso ausschließen wie grenzenlosen Reichtum, der zwingend zur Armut führt.

Der dritte Grund war und ist für mich die Forderung nach Chancengleichheit. Die Menschen werden in höchst unterschiedliche Verhältnisse hinein geboren. Die Frage für Staaten und Gesellschaften besteht immer darin, wie viele Chancen denen, die es sehr viel schwerer haben als andere, gegeben werden, einen Ausgleich zu finden. Es gibt Strukturen, die das in vielfacher Hinsicht erleichtern, und solche, die es in jeder Hinsicht erschweren. Deutschland ist ein extrem negatives Beispiel für soziale Durchbrechungen.

Und dann gab und gibt es für mich noch einen vierten Grund. Der vierte Grund war und bleibt der Internationalismus der Linken. Er ist eine zentrale Frage. Bekämpfe ich nur Armut in meiner Gesellschaft oder weltweit? Streite ich für Chancengleichheit nur in meiner Gesellschaft oder weltweit? Kann man überhaupt von sozialer Gerechtigkeit sprechen, wenn sie an der eigenen Landesgrenze stoppt? Kann man überhaupt von Chancengleichheit sprechen, wenn sie nur in einem Land gilt? Ist der Internationalismus nicht eine zwingende Voraussetzung, wenn man für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit eintritt?

Ich sage euch ganz offen, auch rechte Bewegungen können sich für soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit innerhalb einer Nation einsetzen. Aber sie werden das nie über die nationale Grenze hinaus tun. Und deshalb ist die Frage des Internationalismus eine Kernfrage der linken Bewegung.

Der Schlusssatz des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels lautet: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Das bedeutete ihre Absage an Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Sie riefen diese Schichten der Bevölkerungen auf, die gleiche Interessenlage zu erkennen und in dem Sinne zu streiten und sich nicht durch die Herrschenden gegeneinander aufhetzen zu lassen.

Inzwischen ist die ökologische Nachhaltigkeit in Verbindung mit der sozialen Frage zu einem fünften Grund für mich geworden, linke Politik zu machen.

Nun stelle ich aber fest, dass es sowohl in der Europäischen Linken als auch in der deutschen einen zunehmenden Trend gibt, bestimmte Fragen auf die nationale Ebene zurück zu ziehen. Damit ich nicht missverstanden werde: Es gibt bei uns keine Rassisten und Nationalisten, aber es gibt nicht wenige, die sich in ihrem Denken und Fühlen auf die Nation begrenzen und diese auch vor der Armut aus anderen Ländern geschützt sehen wollen. Damit ich auch in dieser Frage nicht missverstanden werde: Niemals dürfen wir zulassen, dass internationale Aufgaben dadurch gelöst werden, dass es den ärmeren und mittleren Schichten in unserem Land schlechter geht. Im Gegenteil. Wir streiten für eine Besserstellung der Ärmeren und auch der Mittelschicht in Deutschland. Wir müssen ihnen eine Sozialgarantie geben.

Wir müssen diesen Schichten aber klar machen, dass ihre Probleme mit Abschottung, mit einer Schlechtbehandlung von Menschen aus anderen Ländern niemals gelöst werden können. Bevor die Flüchtlinge nach Deutschland kamen, gab es kein höheres Hartz IV, und seitdem sie in Deutschland sind, gibt es kein niedrigeres Hartz IV. Die Mehrheit des Bundestages billigt den Ärmsten völlig unabhängig von ihrer Zahl und den Geflüchteten immer nur das Allernotwendigste zu. Das müssen wir bekämpfen, und zwar für alle. Unser Kampf muss sich nicht darauf richten, Niedriglohnkonkurrenz durch Begrenzung von Arbeitsmigration auszuschließen, sondern darauf, die Löhne für alle zu erhöhen. Und dann müssen wir auch die Mitte entlasten, die ja in Deutschland nur deshalb so herangezogen wird, weil man sich an die Konzerne, die großen Banken und die ungerechtfertigt Reichen nicht herantraut beziehungsweise an sie nicht herantrauen will. Letztere materiell zu schützen ist nicht die Aufgabe der Linken.

Ich sehe also die Entwicklung der Linken in Europa und in Deutschland mit Sorge. Wir dürfen uns vom Grundwert des Internationalismus nicht entfernen. Geschähe dies, wäre einer meiner wichtigsten Gründe, bei den Linken zu sein, entfallen.

Ist es nicht unser Ziel, dass die Menschen selbst entscheiden können, wie und wo sie leben? Und wenn man eine andere Position hat und sich gegen Arbeitsmigration stellt, warum dann eigentlich nicht auch noch die Bundesländer teilen? Könnte dann nicht ein bayrischer Linker fordern, dass Bayern die Bundesrepublik Deutschland verlässt und man die Sächsinnen und Sachsen dort nicht mehr arbeiten lässt, weil das ja wieder Bayern Arbeitsplätze kostete und das Lohnniveau bedrohte? 2016 kamen 60 Prozent der Zugewanderten aus Europa zu uns - spräche das nicht auch gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU? Das kann doch wohl nicht unsere Antwort sein oder?

Natürlich müssen wir vor allem die Fluchtursachen benennen und bekämpfen, gerade in Ländern, aus denen viele Menschen flüchten, auch vor Ort. Aber das geht nur internationalistisch und ist kein Argument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.

Weltweit gibt es zurzeit 65 Millionen Flüchtlinge. Seit 2015 flüchteten davon 3,2 Millionen Menschen in die 28 EU-Staaten. Vergleichsweise viel größere Flüchtlingszahlen müssen deutlich ärmere Länder wie der Libanon und Jordanien versorgen. Anstatt nur zu stöhnen, sollte Europa dort viel mehr helfen. Wenn dies nicht geschieht, müssen sich die Flüchtlinge einen anderen Weg suchen.

Es muss unser erstes Interesse sein und bleiben, die Welt und damit auch die nationale Politik so zu verändern, dass Menschen nicht fliehen müssen. Aber es wäre fatal, wenn wir unsere bisher sehr übersichtlichen Erfolge in dieser Frage dadurch zu kompensieren versuchten, dass wir Flüchtlingen dann indirekt oder direkt das Recht absprechen, Perspektiven für sich und ihre Familien anderswo, also auch bei uns zu suchen. Wir sollten unseren Kampf, der Macht der neoliberalen Weltkonzerne und ihrer politischen Umsetzungsgehilfen in den Regierungen Grenzen zu setzen, nun wirklich nicht damit beginnen, dass wir für deren ärmste Opfer die Grenzzäune hochziehen, schon weil die Grundrechte der Menschen gelten und unsere Gesellschaft durch die Integration nicht ärmer, sondern reicher wird.

Damit Integration gelingt, sollten wir uns für einen Vorschlag von Gesine Schwan stark machen, die einen europäischen Fonds fordert, aus dem Kommunen nicht nur die Kosten für die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge erstattet bekommen, sondern den Betrag doppelt erhalten, um damit Investitionen in die Infrastruktur, gerade auch in Wohnungen, Bildung, kulturelles Leben finanzieren zu können. Das wäre eine konkret vor Ort spürbare soziale Offensive, die allen zugutekäme. So könnte man die Aufnahme von Flüchtlingen für Kommunen sogar attraktiv gestalten.

Zur Integration gehört die Vermittlung der deutschen Sprache, die Verhinderung einer Gettoisierung, die Vermittlung in Qualifizierung und Arbeitsmarkt und die Unterrichtung über unsere Grundwerte und Grundrechte entsprechend den Artikeln 1 bis 20 des Grundgesetzes. Jedem Geflüchteten müssen wir erklären, dass Frauen und Männer bei uns gleichberechtigt sind. Und Punkt. Das müssen wir natürlich auch insgesamt bei uns noch durchsetzen. Kein Flüchtling hat das Recht zu versuchen, Kultur, Kunst und Lebensweise in Deutschland einzuschränken, aber jeder Flüchtling hat das Recht zu versuchen, Kultur, Kunst und Lebensweise hierzulande zu erweitern.

Der Internationalismus ist auch deshalb so besonders wichtig geworden, weil wir in den USA und in Europa eine rechtspopulistische und rechtsextreme Entwicklung erleben. Der nationale Egoismus wird von Trump und Co. geschürt. Doch diese Versuche, sich von den Konsequenzen der neoliberalen Globalisierung quasi abzukoppeln, ohne deren Grundlagen in Frage zu stellen, können die Entwicklung nicht verändern - und wollen das letztlich auch gar nicht.

Die Rechten bieten mit den Flüchtlingen als angeblich Schuldige die Sündenböcke für eine scheinbar einfache Lösung an. Doch das ist nichts weiter als Rassismus, als Unmenschlichkeit und nebenbei auch ein fundamentaler Angriff auf unser Grundgesetz. Es wäre deshalb grottenfalsch, wenn die Linke sich den Diskurs gegen Einwanderung von rechts aufzwingen ließe. Die Linke muss das Gegenüber zur Rechtsentwicklung werden. Das ist unsere Aufgabe, das ist einer unserer Werte. Auch die Mitte wird dann einräumen müssen, dass sie es ohne die Linke nicht geschafft hätte, die Rechtsentwicklung zu stoppen. Selbstverständlich müssen wir auch versuchen, Wählerinnen und Wähler der Rechten zu gewinnen, aber nicht, indem wir ihnen in dem von uns abgelehnten Denken entgegenkommen, sondern nur indem wir sie vom Gegenteil überzeugen. Das mag mühseliger sein, es ist aber die Aufgabe der Linken.

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