Das Loch in der Wand

  • Heiko Werning
  • Lesedauer: 3 Min.

Eines Morgens befand sich neben der Haustür im Flur überraschend ein großes Loch. Ungefähr auf Kopfhöhe, der Putz abgeschlagen, ein großer Hohlraum dahinter. Daneben ein Zettel: »Hi liebe Nachbarn! Ich habe gestern meine Masterarbeit eingeliefert und hatte deswegen eine Party. Eine Freundin ist umgestürzt. Sorry.« Ich war baff. Wie kann man denn so umstürzen, dass ein riesiges Loch in die Wand kommt? Mit einer Spitzhacke in der Hand? Was war denn das für eine Party?

Allerdings wich mein Ärger einem nostalgischen Ziehen. Wie lang war es bei mir eigentlich her, dass ich nachts bis in den frühen Morgen auf einer Party war? Wann hatte ich das letzte Mal so gefeiert, dass ich hinterher nicht mehr wusste, ob ich irgendwelche Wände eingeschlagen hatte oder nicht? Ich seufzte.

Später traf ich Jochen aus dem Vierten. Er schimpfte: »Das war vielleicht ein Lärm heute Nacht. Diese jungen Leute! Feiern, bis da Löcher in der Wand sind.« Dann fuhr er leiser fort: »Könnte man glatt neidisch werden. Julia und ich waren gestern auch auf ’ner Party. Ich bin um halb eins in irgend `nem Sessel eingeschlafen, aber da waren wir eh schon die Letzten. Am Ende waren wir nüchtern genug, um mit dem Auto nach Hause zu fahren!«

Am Nachmittag traf ich Sina aus dem Obergeschoss, die ebenfalls kopfschüttelnd das Loch musterte. Ihr Blick hatte etwas Schwärmerisches: »Wahrscheinlich Sex!« »Sex?«, fragte ich verblüfft. »Natürlich! Was sonst? Wilde Party bis in den frühen Morgen, die letzten zwei gehen schließlich, haben ordentlich getrunken oder gottweißwas genommen, haben sich die ganze Nacht richtig heiß getanzt, dann, hier unten, da konnten sie nicht mehr warten. Schnelles Nümmerchen im Flur in der Morgendämmerung. Dabei vor Leidenschaft halt vor die Wand gewummert. Kann doch mal passieren.« Ich schaute immer noch skeptisch. »Also«, fuhr sie fort, »ich hab’s früher gern mal in irgendwelchen Treppenhäusern getrieben. Das waren Zeiten! Würd ich heute gar nicht mehr können. Hab ja Rücken! Da würde ich gleich wieder ’n Bandscheibenvorfall kriegen.« Seufzend ging sie nach oben.

Montagmorgen früh klingelte es. Ein Handwerker stand vor der Tür, Mitte fünfzig, Typ plautzetragender Bolle-Berliner. »Morgen! Hier soll irgendwo ’n Loch inne Wand sein.« Ich zeigte drauf, er staunte. »Mann, Mann, Mann, da habta aba janz schön jefeiert, wa?« Ich schaute ihn verdattert an. Wir? Na klar, das Loch war ja direkt neben unserer Tür. Ich wollte schon empört dementieren, da spürte ich das nostalgische Ziehen wieder. Und dachte an die Nachbarn. Ich holte Luft, dann lächelte ich vage: »Na ja, war ’ne lange Nacht.« Der Maurer nickte anerkennend: »Alle Achtung. So ’n Loch in der Wand, das ist ordentlich.« Ich machte nur: »Hm.« »Aba schalten se’s nächste Mal ma vielleicht mal ’n Gang runter, wir werden alle nich jünger, wa.« »Hm«, machte ich erneut und ging zurück in die Wohnung. Erstaunt stellte ich fest, dass ich inzwischen überraschend gute Laune hatte für einen frühen Montagmorgen.

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