Selbst sind die Mieter

Der Alternative Wohngipfel in Berlin fordert bezahlbaren Wohnraum für alle statt Rendite für wenige

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Saal ist brechend voll, bis auf den letzten der 250 Plätze ist das Umweltforum am Donnerstag belegt. Verdrängung muss hier allerdings niemand fürchten, denn genau darum geht es beim alternativen Wohngipfel in Berlin, der hier einen Tag vor dem offiziellen Wohngipfel im Kanzleramt stattfindet: Wie können Mieter*innen gegen die zunehmende Verdrängung geschützt und Wohnraum für alle geschaffen werden?

Nicht nur der große Andrang, auch das breite Bündnis aus Mieterbund, Gewerkschaften, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie mehr als 200 Organisationen, die zum Gipfel geladen haben, zeigt, wie akut das Problem ist. Es sind längst nicht mehr nur kleine Nachbarschaftsinitiativen, die die Wohnungsfrage als soziale Frage unserer Zeit erkannt haben. Auch große Organisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband sind erstmals mit dabei. »Ich kenne eine Frau, die mit ihren zwei kleinen Kindern seit über einem Jahr im Frauenhaus in einem 12-Quadratmeter-Zimmer leben muss, weil wir keine Wohnung für sie finden«, erzählt Verbandschef Ulrich Schneider.

Kein Einzelfall: Eine Million Wohnungen fehlen in Deutschland. Von den 400 000 Wohnungen, die pro Jahr neu gebaut werden müssten, um den wachsenden Bedarf zu decken, wurden im vergangenen Jahr lediglich 285 000 fertiggestellt, der Großteil davon Ein- oder Zweifamilienhäuser oder teure Eigentumswohnungen. Gleichzeitig werden bezahlbare, preisgebundene Wohnungen immer weniger: Von rund vier Millionen auf 1,25 Millionen ist der Bestand in den letzten 30 Jahren geschrumpft. Ein Ende dieses Abwärtstrends ist nicht erkennbar: Während für mehr als 50 000 Sozialwohnungen die Preisbindung ausläuft, wurden im vergangenen Jahr gerade einmal halb so viele neu gebaut.

Vom offiziellen Wohnungsgipfel, der am heutigen Freitag im Kanzleramt stattfindet, erwarten die Teilnehmer*innen jedoch keine Antworten auf diese Probleme. Die Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und SPD sowie die jüngsten Gesetzentwürfe und Pläne der Bundesregierung »lassen vermuten, dass auf dem Wohngipfel der Bundesregierung den Interessen, Bedürfnissen und Sorgen von Mieter*innen und Wohnungssuchenden nicht angemessen Rechnung getragen wird«, heißt es in der gemeinsamen Erklärung. Also beraten Betroffene und Aktivist*innen für eine soziale Wohnungspolitik selbst über Lösungen zur Schaffung und Erhaltung bezahlbaren Wohnraums. Auch Bundestagsabgeordnete der LINKEN, der Grünen und sogar der SPD nehmen teil.

Nicht nur in den verschiedenen Seminaren über Mietrecht, Stadtplanung oder Wohnungsgemeinnützigkeit wird rege diskutiert. Auch in den Pausen werden persönliche Erfahrungen und Ideen ausgetauscht. Nicole Lindner steht in der Sonne vor dem großen Backsteingebäude und unterhält sich angeregt mit anderen Teilnehmer*innen. Sie erhofft sich von dem alternativen Gipfel vor allem mehr Vernetzung und eine größere Aufmerksamkeit für die Interessen von Mieter*innen durch die Politik. »Es geht um das Recht auf Wohnen für alle Menschen«, sagt sie. Immer mehr Mieter*innen würden durch die ständigen Mieterhöhungen aus ihrem Zuhause verdrängt.

Diese Erfahrung kennt auch Magnus Hengge von der Nachbarschaftsinitiative »Bizim Kiez«. Nirgendwo in der Stadt seien die Mietsteigerungen so hoch wie bei ihm im Wrangelkiez im Berliner Ortsteil Kreuzberg, erzählt er. Mit einer durchschnittlichen Preissteigerung von über 20 Prozent läge Berlin mittlerweile vor Hongkong, Paris oder London. »Bauen lohnt sich nicht«, erklärt Hengge. »Die großen Gewinne lassen sich durch Verdrängung erzielen.« Durch die vielen Ausnahmen bei der Mietpreisbremse oder die Möglichkeit, die kompletten Kosten für unsinnige Modernisierungsmaßnahmen auf die Mieter*innen umzulegen, würde die Politik Verdrängung quasi legalisieren. »Der Staat muss diesen unmenschlichen Geschäftspraktiken endlich einen Riegel vorschieben.« Mieter*innen müssten über ihre Wohnungen und über ihre Stadtentwicklung mitbestimmen können.

»Es muss Schluss sein mit dem Bauen für Reiche, wir brauchen Wohnungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«, meint DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. Die hart erkämpften Lohnerhöhungen würden durch die steigenden Mieten aufgefressen. »Um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen muss der Staat Geld in die Hand nehmen.« Mindestens 100 000 Sozialwohnungen fordern die Verbände, sechs Milliarden Euro sind dafür laut Deutschem Mieterbund erforderlich. Geld, das laut Veranstaltern zum Teil dadurch wieder rein geholt werden könnte, indem die steuerlichen Schlupflöcher für große Immobilienunternehmen etwa bei sogenannten Share-Deals geschlossen werden.

Die Schaffung neuer, bezahlbarer Wohnungen allein löse das Problem jedoch nicht, so Lukas Siebenkotten vom Deutschen Mieterbund, »Die bezahlbaren Wohnungen müssen auch bezahlbar bleiben.« Dafür bräuchte es mietrechtliche Änderungen wie besseren Kündigungsschutz oder Mietobergrenzen. Der Stadtsoziologe Andrej Holm fordert, dass sich die Mietkosten am Einkommen orientieren. Gerade für einkommensschwache Menschen werde die hohe Mietbelastung zunehmend zum Armutsrisiko. »Miete macht arm und verschärft die soziale Ungleichheit«, so Holm.

Insbesondere für Alleinerziehende, Rentner*innen, Migrant*innen, Arbeitslose und Menschen mit geringem Einkommen ist die Suche nach bezahlbarem Wohnraum in akzeptabler Lage nahezu aussichtslos. Ihnen bleibt oft nur noch der Stadtrand. Die Alternative, die keine ist, wäre die Wohnungslosigkeit. Die BAG Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl wohnungsloser Menschen auf 860 000, eine offizielle Statistik gibt es nicht. Auch diese Menschen müssen mit Wohnraum versorgt werden.

Die Bundesregierung plant, in dieser Legislaturperiode 1,5 Millionen neue Wohnungen und Eigenheime zu errichten. Viel zu wenig, meint Stadtsoziologe Holm: »Der Bedarf ist weit weg von dem, was in der Politik diskutiert wird.« Mehr als fünf Millionen Wohnungen, die weniger als sechs Euro pro Quadratmeter kosten, seien nötig, allein in den Großstädten fehlten fast zwei Millionen bezahlbare Wohnungen. Die Lösungen dafür seien da, »an was es fehlt ist allein der politische Wille«.

Beim alternativen Wohngipfel geht es jedoch nicht nur um die Entwicklung konkreter Lösungsvorschläge: »Wir hoffen, dass sich die vielen kleinen Initiativen vernetzen und ein zarter Keim für eine starke bundesweite Bewegung entsteht«, so Paritäts-Chef Ulrich Schneider. Die Tausenden von Menschen, die in der vergangenen Woche in München gegen steigende Mieten demonstriert haben, hätten gezeigt, dass die Mietenbewegung im Aufwind ist. Für die Demonstration am Freitag vor dem Kanzleramt erhoffen sich die Veranstalter eine ähnlich hohe Teilnehmer*innenzahl.

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