Seele in Roheisen

Grandiose Schau: Alle 14 DEFA-Spielfilme von Konrad Wolf in einer DVD-Box

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Der wahre Künstler ist unglücklich. Er weiß, dass nur dies ihn zum Wahrhaftigen leitet. Er liebt den Menschen zu sehr, um geschmeidige Techniken der Anpassung als unumstößliches Grundprinzip der Existenz anzuerkennen. Der wahre Künstler ist: verletztes Gefühl, bedrohte Seele - der überspannte Enthusiasmus der Menschenliebe muss immer wieder durchs Feuer der Enttäuschung. Fluch, aber: Verlust, in Form und Erzählung gebracht, schafft das kräftigende Empfinden, der Schmerz sei lebbar, ihm sei etwas entgegenzusetzen.

Die DEFA-Filme von Konrad Wolf sind - bleibende Entgegensetzung. Alle 14 Spielfilme von 1955 bis 1980 versammelt jetzt eine DVD-Box; eine bewegende Schau, ein großes Europa-Kunstwerk. All diese Filme sind - leise. Als sagten sie nicht, sondern lauschten. Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase spricht in einem der Bonus-Beiträge (u. a. Dokumentationen von Gitta Nickel und Lew Hohmann; TV-Porträt per Telefon mit Heinz Florian Oertel) von Wolfs Gabe, zuzuhören; »das Zuhören ist die erste Voraussetzung für Hilfsbereitschaft«. Der gehabte Sozialismus horchte auf das Pochen des Menschheitspulses, aber hörte er dem Menschen zu? War er also wirklich hilfsbereit? Wolfs Filme kreisen um genau dieses Thema. Das Werden von Gesellschaften: Traum und Albtraum. Der Mensch darin: Korn und Kämpfer; Flehen und Forderung. Aufbau und Niederwurf in Wolfs Kunst: das kühne Zupacken kein Würgegriff, alles klagende Bedauern nie kraftlos.

Antifaschismus musste man ihm nicht verordnen. Das hatte die Erfahrung bereits getan. Hatte ihn, den 1925 Geborenen, zum Sohn des Juden und Kommunisten Friedrich Wolf bestimmt. Ihn als Kind ins Moskauer Exil geschickt. Ihn in den Krieg befohlen. Der Deutsche in der Roten Armee. Er sprach den Frieden ins Megaphon, seine Landsleute antworteten: mit Schüssen, die tödlich sein wollten. Ein Weg bis Berlin, dort ist er ein Befreier, andere sagen: Besatzer. So einer vergisst nie, dass Güte Kampf bedeutet. Verlernt nie, sich zu schützen. Verliert nie das Gefühl für den Preis einer Haltung. Kurze Zeit war Wolf Kommandant in Bernau. Nach »Ich war neunzehn« (1968, mit Jaecki Schwarz) wurde er dort Ehrenbürger - der vierte in der Geschichte des Ortes. Der vor ihm hieß Hitler.

»Professor Mamlock«, »Lissy«, »Sterne«, »Sonnensucher«. Deutsche Schuld, deutsches Büßen, deutsche Chancen. »Er hat sich gequält«, sagte sein Bruder Markus. Qual wegen einer Parteitreue, die gleichbedeutend war mit Treue zur eigenen Biografie - und zum fragenden Wesen des Künstlers. Ein wachsender Widerspruch. Gott und Genosse, Güte und Gewalt, Einordnung und Ausbruch, Sekundenglück und Jahrhundertmission - Wolfs Filme vereinen das alles. Kein Geringerer als Martin Walser, nie Kommunist, aber bohrender Antifaschist aus offenster Generationsscham heraus (»Ich glaube, man ist Verbrecher, wenn die Gesellschaft, zu der man gehört, Verbrechen begeht«), sagte über Wolf: »Er hatte aus gutem Grund das Gewissen in Anschlag - waffenlos.« Ich lasse euch nicht in Ruhe - euch nicht, mich nicht. Hat Wolf gesagt.

»Genesung«: Just ein unverbindlich flottierender (falscher) Arzt ruft, anfangs der DDR, einen prinzipienfesten Kommunisten ins Leben zurück, der an seiner Querschnittslähmung zu zerbrechen droht. Der grandios getriebene, locker dahinwehende Wolfgang Kieling plötzlich als treibende Kraft - und der geradlinige Wilhelm Koch-Hooge als leidverstörter Kämpfer: das harte Parteigestählte unerwartet ausgesetzt jener kreatürlichen Ohnmacht, die sich am liebsten den Tod wünscht.

»Der geteilte Himmel«, nach Christa Wolf. Ein Paar zerbricht an der Weltentrennung. 1961, die Mauer steht bald. Renate Blumes Rita geht nicht in den Westen und weiß doch: Gebliebensein, das bedeutet für alle Lebenszeit ein Stück Gestorbensein. Eberhard Esches Manfred: Da kann einer nicht mehr aus seiner Haut, die er im Westen möglicherweise zu Markte tragen muss, aber: Ihm muss fortan nicht mehr so böse unter die Haut gehen, was im Osten nur immer unter den Teppich gekehrt wird. Der Film verzweifelt, wie wir verzweifeln: Die Welt bleibt geteilt - was ist Himmel, was Abgrund?

»Mama ich lebe«: Eberhard Kirchberg, Detlev Gieß, Uwe Zerbe, Peter Prager - junge Deutsche, die zur Roten Armee überlaufen und doch wieder die Wehrmachtsuniform anziehen müssen: Kampfauftrag im Hinterland des Feindes - ein Todesurteil unterm Signum einer schwierigen Willkommenskultur. »Geschmolzenes Roheisen« nannte Wolf seine Generation. Glühend - aber nur immer, um Kugeln zu gießen, sich zu panzern? Sehnsucht zog die Seelen, Ideologien trieben den Geist, Schlachtbefehl stieß die Körper, Tod riss die Herzen.

Schnitt. Längst ist eine Zeit angebrochen, die behauptet, Sozialismus zu sein, da trägt das Mädchen Sunny - seltsam! - ein Messer in der Tasche: Krieg ist ein Mörder, verwundetes Empfinden auch. Immer kommt es anders, als man denkt. Immer kommt es anders, weil man denkt. Denken klärt auf, aber im Hellen verschwinden doch Elend und Einsamkeit nicht. »Solo Sunny« mit Renate Krößner: schönes, gekerbtes, gedemütigtes und doch unbesiegliches Selbstbewusstsein einer jungen Sängerin, jenseits von staatlich verordneter Sonnigkeit. Die Liebe spricht in diesem Film mit Schmerzensschnauze, die Traurigkeit singt tapfer Schlager. Eine Geschichte, aus gütigster Angst heraus entworfen: dass bei der Erzählung vom Menschen auch nur ein einziges Gefühl unbeachtet bleiben, gar verloren gehen könnte.

»Der nackte Mann auf dem Sportplatz« mit einem so herzstark sanften Kurt Böwe - ein mutig stiller, ein damals unterschätzter Film über die größte Menschenkraft: einfach das Seine zu tun, ohne sich dem Urteil der Welt unterzuordnen. Die schwerste aller Künste. Erzählt wird von den Mühen eines Bildhauers in der DDR; seine Kunstausübung als harte Arbeit, ausgesetzt so vielen losen Zungen in so vielen leeren Köpfen. Die ganz große Lebensfrage: Wie viel Geduld muss ein Mensch aufbringen - bis er endlich verstanden wird.

Konrad Wolf: Genosse, Funktionär. Nie hat man das bei ihm in Verbindung setzen müssen zu Verhärtungen im Überzeugungsrausch. Christa Wolf beschrieb ihn als Menschen, der sich den Blick bewahrte für eine »immer fragwürdiger werdende DDR-Realität«. Und dem sein Schwer- und Schweigegemüt dabei so hilfreich war, wie es ihn peinigte. »Ich teilte mitunter überhaupt nicht seine Meinung, dennoch zählte er zu den Menschen, die ich befragte, um moralisch zu überleben. Wer ›Goya‹ sieht, weiß, wie es in ihm aussah.« Der Film, gedreht nach Feuchtwangers Roman: Der Maler reißt sich heraus aus Königspomp und falschen Aufträgen. Der Weg zum Volk führt über Folterbänke. Aber das Endziel dieses »argen Weges der Erkenntnis«: nur immer wieder ein neues, erschöpfendes Ankommen im Widerspruch zwischen politischem Engagement und ungebundenem Selbst. Der erdige, naive, wunde Donatas Banionis ist Hauptdarsteller in einem Film, der von Freiheit erzählt. Freiheit, die nur für denjenigen das höchste Gut bedeutet, der vom Willen zum Ketzer beseelt ist.

In »Ich war neunzehn« sitzt ein ausgemergelter Mann, eben noch KZ-Häftling, am Rande eines Dorfes wie am Rande der Welt. »Spielt noch einmal das Lied!«, sagt er zu den Sowjetsoldaten, die gleich abfahren werden. Vom Lkw das Lied, eine kratzende Platte. Ernst Busch, die Jarama-Front. Das Lied als Erinnerung, auf dem Weg in eine neue Zeit - da so furchtbar Geprüfte wie dieser schmächtige Mann das Sagen haben werden, aber ihm die Furcht anzusehen ist, den Kommenden nicht wirklich vermitteln zu können: was da gelitten, was da durchgestanden werden musste. Das kälteste Grab ist die Erinnerungslosigkeit. Noch einmal Walser: »Dass wir überhaupt nach all dem, was war, auf dieses Wort kamen: Bewältigung der Vergangenheit.«

Fürs Alter hatte sich Wolf, der unbezähmbare Phantast (er starb 1982) - eine Kneipe herbeigeträumt. Sie sollte nah dem Reichstag liegen, im Katakombischen, die unterirdischen Pfade sollten der Weg zur Gaststätte sein. Wolfgang Kohlhaase schrieb: »Essen sollte dort als vertrauensbildende Maßnahme gelten.« Wolfs kulinarisches Gemüt. Das Pelmeni-Mahl in »Ich war neunzehn« (Kamera, wie meist: Werner Bergmann) gehört zu den sinnlichsten Szenen der modernen Filmgeschichte. Es erzählt von den Geschmacksnerven als einem verlässlichen Indikator des Politischen: alles im Leben so prüfen, wie man Essen und Trinken nach Bekömmlichkeit prüft.

Konrad Wolf. Alle Spielfilme 1955 - 1980. 14 DVDs. Edition: ICESTORM/ DEFA-Stiftung, 85,99 Euro. Erhältlich auch im nd-Shop. 17. Oktober, 17 Uhr in Berlin, Akademie der Künste am Hanseatenweg: »Genesung« und Werkstattgespräche u. a. mit Wolfgang Kohlhaase, Ralf Schenk, Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel.

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