Der nützliche Verschleiß

Bei der Handball-WM werden alle Mannschaften langsam müde. Das könnte ein Vorteil fürs deutsche Team sein

  • Michael Wilkening, Köln
  • Lesedauer: 4 Min.

Es könnte eine Sache von Zentimetern sein, die darüber entscheiden, welches Team am kommenden Sonntag im dänischen Herning Handballweltmeister wird. Hendrik Pekeler glaubt jedenfalls fest daran. Der Kreisläufer des THW Kiel, der in diesen Tagen ein Turm in der Abwehrmauer der deutschen Mannschaft ist, dürfte sich deshalb darüber freuen, dass seine Teamkollegen und er an diesem Mittwochabend (20.30 Uhr, ARD) im abschließenden Hauptrundenspiel der WM in Köln gegen Spanien nicht an die Leistungsgrenze gehen müssen. Schließlich hat der Co-Gastgeber der Welttitelkämpfe durch das in vielen Sequenzen dramatische 22:21 gegen Kroatien vorzeitig das Halbfinale erreicht.

Es ist ein unerwarteter Luxus, den die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) sich da selbst geschaffen hat. Das finale Spiel der Hauptrunde gegen den Europameister, der beim Kontinentalturnier vor einem Jahr die Deutschen ebenfalls im letzten Duell der Hauptrunde auseinander genommen hatte, ist jetzt ohne besonderen sportlichen Wert. Es geht vordergründig im Fernduell mit Frankreich darum, wer die Gruppe als Erster abschließt. Weil aber nicht klar ist, welcher Kontrahent sich dadurch für das Halbfinale am Freitag in Hamburg ergibt, ist das letztlich ein Rennen ohne lukrativen Lohn. Bundestrainer Christian Prokop deutete daher am Dienstag an, zwar das »Spiel gewinnen« zu wollen, der Schonung der strapazierten Spieler aber »einen Vorrang« einzuräumen.

Zum zweiten Mal in diesem Turnier nach dem bedeutungslosen letzten Vorrundenmatch gegen Serbien in Berlin bekommen die deutschen Handballer also die Möglichkeit, ein WM-Spiel zum Durchschnaufen zu nutzen, und das könnte sich nach der Analyse von Pekeler in den Medaillenspielen am Freitag und Sonntag auszahlen. »Es hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sich alle Mannschaften am Ende der großen Turniere schwerer tun, im Angriff erfolgreich zu sein«, erklärte er. »Nach so vielen Spielen in kurzer Zeit wird die Müdigkeit größer und die Angreifer springen vielleicht einen oder zwei Zentimeter weniger hoch. Dadurch verändert sich der Wurf und es wird etwas leichter für die Abwehrreihen.«

Die Müdigkeit, der größte natürliche Feind des Handballers bei einem Turnier, fühlten die deutschen Spieler am Dienstag ganz besonders, denn sie mussten tags zuvor in der »Defensivschlacht« gegen die Kroaten allesamt bis über die eigenen gefühlten körperlichen Grenzen hinausgehen. Gut 19 000 Zuschauer in der Kölner Arena hatten die DHB-Auswahl zu einer nicht für möglich gehaltenen Energieleistung getrieben, die Grundvoraussetzung war, um das starke kroatische Team hauchdünn zu schlagen. »Ich bin überglücklich darüber, wie sich die Mannschaft aus schweren Situationen befreit hat, wie sie Rückschläge weggesteckt hat«, verteilte Prokop Komplimente an seine Spieler. Angestachelt vom herausragenden Fabian Wiede, der in den kritischsten Phasen eindrucksvoll Verantwortung übernahm, rangen die Deutschen die Kroaten nieder - und verschafften sich damit eine kleine mentale und körperliche Pause.

Folgt man der Analyse von Pekeler, könnte die zum wichtigen Vorteil für die Deutschen in einem Halbfinale werden. Ein anderer vielleicht noch größerer ist die gedankliche Fortführung der Aussagen des Kreisläufers. Durch den Kräfteverschleiß bei den Spielern, die sich in erster Linie auf das Angriffsspiel auswirken, bekommen die Abwehrreihen eine noch größere Bedeutung. »Wenn alle müde sind, ist es leichter, Würfe zu verteidigen als Tore zu werfen«, sagte Pekeler. Das müsste den Deutschen entgegenkommen, denn die verfügen nach allgemeiner Einschätzung über die beste Defensivreihe bei dieser Weltmeisterschaft. »Wir stellen die beste Abwehr der Welt«, sagte gar sein Verbandsvizepräsident Bob Hanning.

Gegen die Spanier ist denkbar, dass eine nachlassende Intensität bei der deutschen Mannschaft durch den erwünschten Spannungsabfall die Abwehrleistung beeinträchtigt. Das ist aber eingepreist ins Vorhaben, den besonders strapazierten Spielern Erholungspausen zu geben. Dabei soll Tim Suton mithelfen, der am Dienstag nach Köln reiste und den Platz von Martin Strobel einnimmt. Der Spielmacher der HBW Balingen-Weilstetten hatte sich im Spiel gegen die Kroaten das Kreuzband gerissen und wird nun vom Lemgoer ersetzt.

Vor seiner Abreise hatte sich Strobel noch mit emotionalen Worten von der Mannschaft verabschiedet. »Da war man nah am Wasser gebaut«, berichtete Pekeler von der Ansprache seines verletzten Kollegen. Fortan wollen die Spieler der deutschen Nationalmannschaft auch für Strobel siegen - bei dem Kräfteverschleiß kann ja jede Motivation helfen.

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