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Abgelegene Skandale

Ann Loewin ermittelt zu der hohen Selbstmordrate unter Flüchtlingen in Sachsen

  • Ann Loewin
  • Lesedauer: 3 Min.

»Do it at Leipzig« heißt die Domain der Touristikinformation der Messestadt, auf der auch das Hotel »Seaside Park« am Hauptbahnhof wirbt: Ein Slogan, der einen makaberen Beigeschmack bekommt, kennt man den letzten großen Medienauftritt des Hotels. Von seinem Dach sprang im März 2017 der 28-jährige Faisal I. aus Pakistan in den Tod. Einer von vielen: In Sachsen begehen unverhältnismäßig viele Flüchtlingen Suizid. Zwischen Januar und August 2016 waren es in Obhut des Freistaats fast vierzig, wie eine Kleine Anfrage der Linksparteipolitikerin Juliane Nagel ans Licht brachte. Demnach gab es 28 Suizide von Asylsuchenden in sogenannten Heimen - allein 18 in Leipzig - und elf in Wohnungen. Grund ist meistens eine drohende Abschiebung; Faisal I. hatte am Tag des Selbstmords die Ablehnung seines Asylgesuches erhalten.

Und er war nicht alleine, als er sprang. Mehr als 300 Leipziger schauten zu, es gelangten abstoßend zynische Videos mit Titeln wie »Fachkraft springt vom Hotel« ins Netz. Diese dokumentieren, wie Faisal I. aus einer Menschenmenge heraus angefeuert wird: »Komm, komm, komm einfach!« Sicher, ein Extremfall. Doch ist die Rolle der deutschen Mitbürger nicht rühmlich, wenn es um Deportationen und Suizidgefahr geht. Während die möglicherweise Betroffenen gut über die Abschieberealität informiert sind - brutale nächtliche Verhaftungen, Festnahme bei Behördenbesuchen, beim Amtsarzt, vor Schulen -, sehen die Nachbarn oft schweigend weg, wenn sie nicht applaudieren: Die Verhaftung von Migranten gehört für viele zum Alltag. Während man landauf und landab über »Abschiebedefizite« lamentiert, wurde fast keine der bundesweit fast 24 000 Deportationen im Jahr 2018 irgendwie gestört.

Auch das ist ein Grund dafür, dass nicht selten Menschen abgeschoben werden, die eigentlich geschützt wären. Auch hier gibt besonders Sachsen unrühmliche Beispiele. Wie etwa beim Versuch der illegalen Abschiebung einer syrischen Familie aus Zittau Anfang 2019, den ihr Anwalt erst am Flughafen Frankfurt stoppte. Eine Woche später durchsuchten Polizisten die Wohnung einer Leipzigerin ohne Beschluss nach einem Tunesier, der abgeschoben werden sollte. Auf Nachfrage Nagels können Polizei und Ausländerbehörde den Fall »nicht eindeutig zuordnen«.

Die oft grenzwertige bis rechtswidrige Vorgehensweise führt zu großer Verunsicherung der möglichen Betroffenen. Nicht wenige, die in den Freitod gingen, waren nach Sachlage gar nicht unmittelbar von Abschiebung bedroht. Doch gibt es oft niemanden, der Ängste auffängt und bearbeitet. Auch die völlig unzureichende psychosoziale Betreuung der bereits traumatisierten Flüchtlinge während ihrer Asylverfahren gehört zum Hintergrund der besonders hohen Suizidzahlen in Sachsen, sagt Nagel. Geeignete Strukturen müssten erst geschaffen werden, gerade abseits der Städte. Stattdessen schließt der Freistaat momentan etliche Einrichtungen mit guter Anbindung an die Infrastruktur. Übrig bleiben abgelegene Heime, die Bewohner zu langen Fußmärschen zwingen, kaum Hilfe ermöglichen und folgerichtig Skandale produzieren. Der junge Iraker etwa, der im Mai 2016 im sächsischen Arnsdorf an einen Baum gefesselt wurde, starb 2017 vor Prozessbeginn in dem Wald, der seine Unterkunft umgibt. Er war schwer psychisch belastet; Zeugen sagen, dass eine psychologische Betreuung und medizinische Versorgung kaum existierte. Sein amtlicher Betreuer namens Steffen Frost ist ein AfD-Politiker im Kreisrat. Und auch Faisal I., der vor zwei Jahren von jenem Leipziger Hotel sprang, war polizeibekannt - nämlich dafür, suizidgefährdet zu sein.

In dieser Rubrik nehmen sich Ann Loewin und Katryn Antoni in loser Folge das rechtsdrehende Inland vor - und die, die es stören.

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