Sehnsucht nach Kontrolle

Rechte EU-Gegner versprechen nationale Selbstbestimmung - eine Illusion.

Großbritannien ähnelt derzeit einem Menschen, der am Ende einer Sackgasse angelangt ist und so tut, als sei das Weiterkommen bloß eine Frage der Zeit. Zuerst lehnte das britische Parlament den EU-Austrittsvertrag ab, dann lehnte es einen EU-Austritt ohne Vertrag ab und nun ersucht man um eine Verschiebung des nahenden Austrittstermins - ohne dass klar ist, wie eine Verschiebung den Widerspruch lösen kann. »Der Brexit«, so der belgische EU-Parlamentarier Guy Verhofstadt, »ist außer Kontrolle geraten.« Dabei war die Wiedererlangung der Kontrolle genau das, was die Brexit-Fans versprochen hatten.

»Vote leave - take back control« war der Slogan, mit dem die Brexiteers das Referendum über den EU-Austritt 2016 gewannen. Sie versprachen Freiheit vom »Brüsseler Diktat« und nationale Selbstbestimmung. In die gleiche Kerbe schlagen die anderen EU-kritischen Parteien, die die eigene Nation vom Ausland unterjocht sehen. Österreichs FPÖ fordert »Schutz vor Fremdbestimmung«. Ungarns Präsident Viktor Orban will sich »von Brüssel nichts diktieren lassen«. Marine Le Pen träumt von einem »freien Frankreich«, dass seine »Souveränität« wiedererlangt, und auch die AfD fordert Deutschlands »nationale Souveränität statt Überstaat«.

Brexit: In die Verlängerung

Angesichts des nahenden EU-Austrittstermins Großbritanniens am 29. März hat die EU der Regierung in London ein Angebot zur Verlängerung bis mindestens 12. April gemacht. Die britische Premierministerin Theresa May will in der nächsten Woche das bereits zwei Mal abgelehnte Austrittsabkommen ein drittes Mal zur Abstimmung stellen. Die Chancen stehen allerdings nicht besonders gut.

Unklar ist noch, wann im Parlament zum dritten Mal über das Brexit-Abkommen abgestimmt wird. Billigt das Parlament das Abkommen, tritt Großbritannien am 22. Mai – also einen Tag vor den Europawahlen – in geordneter Weise aus der EU aus, bleibt aber enger Partner der Staatengemeinschaft. Gibt es ein drittes Nein, tritt Großbritannien ohne Abkommen aus – oder es muss bis zum 12. April erklären, wie es weitergehen soll. Denkbar wäre eine Verschiebung um mehrere Monate, verknüpft zum Beispiel mit einer Neuwahl in Großbritannien oder einem zweiten Brexit-Referendum. Die anderen EU-Länder müssten diesem Plan allerdings zustimmen.

May wollte bei der EU eigentlich einen Aufschub bis zum 30. Juni erreichen. Doch die EU sah die Europawahl vom 23. bis 26. Mai als entscheidende Hürde: Wollte Großbritannien noch einige Monate EU-Mitglied bleiben, müsste es an der Wahl teilnehmen und Europa-Abgeordnete bestimmen. Und die Entscheidung, ob es an der Wahl teilnimmt, muss bis zum 12. April gefällt sein. nd/mit Agenturen

Selbstbestimmung, Freiheit, Kontrolle - das sind die Titel der »Souveränisten« des rechten Lagers. Doch ist ihr Versprechen bestenfalls ein Irrtum, schlimmstenfalls eine Lüge. Denn auf dem heutigen Weltmarkt gibt es keine Unabhängigkeit, sondern nur verschiedene Formen der Abhängigkeit. Und deswegen ist das Leiden der EU-Kritiker unter der Macht Brüssels nur die eine Seite der Wahrheit.

Tatsächlich regiert die EU in vielen Bereichen mit. So ist die Handelspolitik die Domäne Brüssels. Die Union wacht über Rechtsstaatlichkeit und die wirtschaftliche Performance der Mitglieder, ihre Wettbewerbsregeln setzen den EU-Staaten Grenzen bei der Förderung heimischer Unternehmen oder des Standorts. Die EU regelt den grenzüberschreitenden Verkehr von Personen, Arbeitskräften und Kapital, und sie überwacht die staatliche Verschuldung. Gerade Letzteres dürfte bald wieder für viel Unmut sorgen. Denn angesichts des ökonomischen Abschwungs wird »bald der Konflikt über den richtigen Kurs der Finanzpolitik wieder ausbrechen«, so die Commerzbank. So würden einige EU-Regierungen zusätzlichen Spielraum für Konjunkturpakete fordern, was andere Regierungen zurückweisen werden. »Dies«, prophezeit die Commerzbank, »wird auf beiden Seiten den extremen Kräften weiteren Auftrieb geben und damit langfristig die Währungsunion unterminieren.«

In der Macht Brüssels sieht die Internationale der europäischen Nationalisten einen Angriff auf ihre Selbstbestimmung und fordert die Kontrolle über die Geschicke ihrer Länder zurück. Doch ist diese Kontrolle eine Illusion. Denn die Basis nationaler Freiheit, die Ökonomie, ist in einem Netz gegenseitiger Abhängigkeiten gefangen. Kein Land produziert nur für sich selbst. Alle Länder brauchen für ihr Wachstum den Weltmarkt, brauchen also Zugang zu den Märkten anderer Länder. So steht und fällt die Konjunktur Europas derzeit mit der Konjunktur in China und den USA.

Der Kampf um die Erträge des globalen Geschäfts mündet damit in einen Kampf um die Regeln, die auf diesem Weltmarkt herrschen. In diesem Kampf zählt allein die Macht der Streitparteien. Und die Macht wiederum resultiert aus schierer Größe der Ökonomie. Denn nur wer groß ist, kann den anderen Schaden zufügen. Diese Karte spielt US-Präsident Donald Trump in seinem Handelskrieg. Die US-Regierung weiß: In einem System gegenseitiger Abhängigkeiten bedeuten nationale »Souveränität«, »Kontrolle« und »Selbstbestimmung« schlicht die Macht, den Konkurrenten die Regeln des Geschäfts vorzuschreiben.

Hier kommt die EU ins Spiel: Als einzelne Spieler sind die EU-Staaten zu klein, um es mit den USA oder China aufzunehmen. Als Zusammenschluss zum zweitgrößten Binnenmarkt der Welt aber können sie den Großmächten Paroli bieten und sich gleichzeitig gegenüber allen anderen Staaten als überlegene Macht aufstellen - auch gegenüber Großbritannien, dessen Träume von nationaler EU-Unabhängigkeit letzten Endes daran scheitern, dass die Briten den Zugang zum europäischen Markt nicht verlieren dürfen. Dieser Zugang ist das zentrale Machtmittel der EU. Zwar bot Trump den Briten als Alternative ein Freihandelsabkommen »mit unbegrenzten Möglichkeiten«. Doch würde Großbritannien damit nur die Abhängigkeit von der EU durch eine Abhängigkeit von den USA tauschen.

»Allein Europa kann tatsächliche Souveränität gewährleisten, das heißt, die Fähigkeit, in der heutigen Welt unsere Interessen zu verteidigen«, wirbt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Was die EU betreibt, ist allerdings mehr als eine Verteidigung ihrer Interessen gegen US-amerikanische und chinesische Angriffe. Ihre Defensive ist zugleich eine Offensive zum Erhalt ihres Status als dominante Wirtschaftsmacht. So streben die Regierungen Frankreichs und Deutschlands explizit nach »Führerschaft« in den Bereichen der Zukunftstechnologien, stoßen dabei jedoch auf Widerstand.

Und das an immer zahlreicher werdenden Fronten. »Es gibt einen Trend zu Handelsbeschränkungen zwischen den Weltmächten wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg«, sagt der slowenische Euro-Zentralbanker Bostjan Vasle. Die USA fordern einen besseren Zugang zum europäischen Markt und drohen mit Zöllen, also mit dem Ausschluss vom US-Markt. »Entweder die EU spielt mit, oder wir werden sie mit Zöllen zur Hölle schicken«, drohte Trump vergangene Woche. Zudem verlangt Washington von den EU-Ländern den Verzicht auf chinesische Technologie und russisches Gas und fordert freien Zugriff seiner Internet-Giganten Facebook, Google und Apple auf die Daten der Europäer. Deutschland, Italien oder Österreich allein hätten diesen Forderungen wenig entgegenzusetzen - eben so wenig wie dem neuen Konkurrenten China. »Den Herausforderungen durch China ist kein EU-Mitgliedstaat alleine gewachsen«, mahnt der deutsche Industrieverband BDI.

Vielleicht stärkste Waffe der Europäer neben ihrem Binnenmarkt ist der Euro. Das Gemeinschaftsgeld ist die zweitwichtigste Währung der Welt. Mit ihr haben die Euro-Staaten ein Mittel in der Hand, um global zu kaufen und zu verkaufen, zu leihen und zu verleihen. Auf sich allein gestellt würden sie dagegen lediglich über ihre kleinen nationalen Währungen verfügen, die jederzeit zum Spielball der Finanzmärkte werden könnten. Auch das zeigt das Beispiel Großbritannien: Die wirtschaftlichen Schäden des EU-Austrittsbeschlusses resultieren bislang vor allem aus den Abstürzen des britischen Pfunds.

Das Zusammenführen ihrer Potenzen sichert den EU-Staaten ihren globalen Einfluss. Der Preis für diesen Machtzuwachs jedoch ist die Unterordnung unter die EU-Regeln: Souveränität nach außen wird gewonnen durch Abgabe von Souveränität nach innen. Folge dieses Widerspruchs ist ein dauernder Kampf um die Macht innerhalb der EU. Letztes Mittel in diesem Kampf ist für jeden EU-Staat die Drohung, aus der Union auszusteigen - ohne dass der Ausstieg jedoch eine echte Alternative wäre.

So ist die EU einerseits für ihre Mitglieder alternativlos. Andererseits bleibt der Zusammenschluss aufgrund politischer Differenzen stets gefährdet. Einig sind sich die EU-Regierungen derzeit nur in einem: Großbritannien den Ausstieg so teuer wie möglich zu machen, um zu demonstrieren, wer wirklich am Schalthebel sitzt. »Die Brexiteers sind mit dem Versprechen gestartet, die Kontrolle zurückzugewinnen«, schreibt die Berenberg Bank, »und nun hat die EU mehr Kontrolle über das Schicksal Großbritanniens, als sie je gewollt hat.«.

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