Haste schon jelesen?

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15. April 1989: SPD und SED haben sich erneut zu Gesprächen getroffen. Laut Erhard Eppler liefen diese »besser als erwartet«; beim Thema »Schüsse an der Grenze« habe man jedoch keine befriedigende Antwort erhalten. Der Sozialdemokrat sieht übrigens wie das West-Sandmännchen aus. Scheint aber nett zu sein, blickt freundlich in die Kameras. Dass ich Westfernsehen konsumiere, muss der Nachbar nicht wissen. Der ist etwas komisch. Werde nicht vergessen, wie er vor zwei Jahren bei mir Sturm klingelte und mir grimmigen Blicks das Zentralorgan zu Füßen warf. »Haste schon jelesen? Jetzt kommt’se doch!« Wer kommt? Die Erna von Lippi? »Nee, die Aggression auf Filzlatschen! Otto Winzer hatte recht.« Ich hob das Blatt auf und las: »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Das war am 28. August 1987, die Ausgabe habe ich noch irgendwo. Dass SED und SPD ein »Dialogpapier« verfassten, war eine Sensation, das »ND« war an jenem Tag schon morgens ausverkauft, Abonnenten riss man es damals aus den Händen. Unglaublich, aber wahr.

17. April: Erhielt am Abend einen aufgeregten Anruf der Studienfreundin Maria aus Warschau. Sie ist ganz aus dem Häuschen: »Solidarność ist legalisiert, das Verbot von 1981 aufgehoben.« Sie habe schon mit Freunden angestoßen. »Na, klar doch«, sage ich. Maria lallt heftig, ohrenbetäubender Partylärm im Hintergrund. Ja, die Polen wissen, wie man feiert. Ich erinnere mich an letzten Sommer in Warschau. Im Kulturpalast, Stalins Geschenk an die polnischen Genossen, haben wir es mächtig krachen lassen. Bis uns die Miliz rauswarf. Wie feierten auf der Straße weiter. Plötzlich ein Gewitterguss. Herrlich. Emanzipierte sozialistische Frauen tragen keinen BH.

19. April: Mein misstrauischer Nachbar hat vielleicht doch recht? Im Bonner Bundestag wurde die Wiederzulassung der Solidarność begrüßt; alle Fraktionen sprachen sich dafür aus, den Reformprozess in Polen finanziell zu unterstützen. Wie generös! Maria rief heute nicht an. Wird wohl am Kater liegen.

20. April: Begegnete dem Nachbarn im Treppenflur. Ob ich das mit der Solidarność wisse. Ja. »Und das mit Sacharow?« Das weiß ich noch nicht. Ist er krank? Oder verhaftet? »Schlimmer, der ist Kandidat zum Kongress der Volksdeputierten. Wissen die in Moskau überhaupt noch, was sie tun?«, brüllt es aus ihm heraus. Dann stapft er matt die Stufen hoch und brubbelt: »Das wird alles ein böses Ende nehmen.« Kalle

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