Blick in den Spiegel oder in den Abgrund?

Der Streit um den gefährdeten INF-Raketenvertrag - eine russische Sicht

  • Dmitri Stefanowitsch
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Streitkräfte aller Staaten in Europa verfügen über genügend tödliche Werkzeuge, um den Kontinent in Schutt und Asche zu legen, auch ohne die derzeit vom INF-Vertrag abgedeckten Waffen. Wenn jedoch der Vertrag stirbt, könnte das Bedrohungsniveau steigen. Mehr Waffen mit kürzeren Flugzeiten werden nicht zur Sicherheit beitragen, sondern den Entscheidungsprozess unter Druck setzen und damit eine Eskalation wahrscheinlicher machen - und diese beschleunigen.

Auch wenn es keine nuklear bestückten Mittelstreckenwaffen gibt, sondern nur Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite mit ausschließlich nichtnuklearen Sprengköpfen stationiert werden, würde jeder Konflikt zwischen russischen und NATO-Streitkräften schnell genug nuklear werden. Das würde nicht wegen raffinierter Escalate-to-deescalate-Strategien geschehen, an welche US-Verbündete glauben. Die Eskalation selbst wird katastrophale Folgen haben.

Der Autor

Dmitri Stefanowitsch, Jahrgang 1986, ist Analytiker für militärisch-politische Angelegenheiten und Raketen-Experte beim Russischen Rat für außenpolitische Angelegenheiten. Sein hier dokumentierter Beitrag (aus dem Russischen übersetzt von Hubert Thielicke) erschien in der Mai-Ausgabe der außenpolitischen Zeitschrift »WeltTrends«, die einen Themenschwerpunkt zu internationalen Sicherheitsfragen und dem Streit um den gefährdeten INF-Raketenvertrag zwischen den USA und Russland enthält.

Zum Weiterlesen: welttrends.de

Raketenpläne auf beiden Seiten

Der INF-Vertrag scheint mit Vollgas in Richtung Friedhof zu rasen. Natürlich bedeutet seine Aussetzung nicht die völlige Auslöschung seines Regimes, jedoch machen es die Ereignisse vor und nach den Erklärungen der Vertragspartner von Anfang Februar fast unmöglich, die Entwicklung umzukehren.

Die USA beharren darauf, dass nur die kontrollierte Vernichtung der russischen bodengestützten Flügelrakete 9M729 (SSC-8) und ihrer Infrastruktur den Vertrag retten kann. Demgegenüber forderte das russische Verteidigungsministerium die US-Seite auf, die Aegis-Ashore-Anlagen sowie die Zieldarstellungsraketen und die Kampfdrohnen großer Reichweite zu zerstören.

Der Hintergrund für diesen neuen russischen Schritt könnte die Idee gewesen sein, dass ein Umdenken der US-Seite im Hinblick auf ihre Position zum »Vernichtungs-Ultimatum« möglich wäre. Aber die offizielle Reaktion der US-Mission bei der NATO zeigte, dass auf diesem Wege kein Fortschritt möglich ist. Diese letzte »Initiative« war eine ziemlich neue Entwicklung, da das russische Außenministerium vorher eine Art gegenseitige Transparenz anbot, um die angeblichen Vertragsverletzungen anzugehen und Lösungen zu finden. Die Erhaltung des Vertrages bleibt das angekündigte Ziel der russischen Diplomatie.

Bemerkenswert ist, dass die USA öffentlich keine Informationen präsentierten, um ihre Anschuldigungen zu stützen, wonach die 9M729 wirklich den Vertrag verletzt. Andererseits legte Russland einige Informationen zum Design und den Fähigkeiten der Rakete vor, auch über die Tests auf dem Raketengelände von Kapustin Yar, zeigte sogar den 9M729-Startcontainer sowie die straßenfähige Startanlage. Leider war das nicht genug und wahrscheinlich auch zu spät für einen realen Wechsel in der öffentlichen Meinung und in den Ansichten europäischer Regierungsvertreter.

Jetzt haben wir zwei Gegner mit aufgekündigten Vertragsverpflichtungen und erklärten Plänen zur Entwicklung neuer bodengestützter Mittelstreckenraketen. Die USA behaupten, sie müssten die russische Stationierung der Rakete 9M279 kontern, die angeblich ihre europäischen Verbündeten bedroht. Russland andererseits »spiegelt« die US-amerikanischen Aktionen und beginnt die Erforschung und Entwicklung einer »bodengestützten Kalibr« sowie einer Überschallrakete für den Mittelstreckenbereich.

Angesichts der Kapazitäten der Verteidigungsindustrien beider Länder und der ziemlich langen Zeit, in welcher der INF-Vertrag sich in Schwebe befindet, sind die ersten Teststarts bereits im Frühling 2019 zu erwarten. Jedenfalls muss es einen Grund für die Erklärung der USA über die Aussetzung des Vertrages gegeben haben, einen anderen als »Druck auf Russland«.

Eines der schlimmsten Szenarien wäre die Einführung von Tomahawk-Landangriffsraketen in die Aegis-Ashore-Startanlagen. Das würde die Glaubwürdigkeit der transatlantischen Politiker zerstören. Entgegen allgemeinem Glauben wären russische Offizielle nicht glücklich darüber, schließlich haben Partner bei vielen Problemen zusammenzuarbeiten und direkte Zusammenstöße zu vermeiden. Ein zuverlässiger Partner ist daher eine Notwendigkeit.

Nukleares Szenario

Wichtige Ereignisse könnten auch in anderen Partnerstaaten des INF-Vertrages stattfinden. US-Mittelstreckenraketen in der Ukraine und russische in Belarus erscheinen sehr unwahrscheinlich, beide Länder sind jedoch nicht neu in dem Spiel. Die Ukraine würde gern Raketen mit einer Reichweite bis Moskau haben und der von Saudi-Arabien finanzierte Prototyp der ballistischen Kurzstreckenrakete Grom-2 ist der offensichtliche Kandidat für eine Ausdehnung der Reichweite.

Belarus hat ebenfalls einige Möglichkeiten. Den derzeit vorhandenen Raketen für den Mehrfachraketenwerfer Polonez fehlen zwar Merkmale, um sie als Basis für vom INF-Vertrag abgedeckte Systeme zu betrachten, aber es gibt die Möglichkeit, dass etwas Neues künftig entwickelt oder in China beschafft werden könnte. Im Unterschied zur Ukraine verfügt Belarus über eine bekannte Produktionsanlage für Fahrgestelle von Raketenstartrampen, ein ziemlicher Aktivposten.

Der INF-Vertrag birgt ein konzeptionelles Problem im Hinblick auf die betroffenen Waffentypen. Obwohl das weithin akzeptierte Akronym INF für »nukleare Mittelstreckensysteme« steht, betrifft der Originalname im Vertrag »Raketen«, ohne die Nutzlast zu spezifizieren. Die USA betonen derzeit, dass sie nicht die Absicht haben, nuklear bestückte Raketen in Europa, und wahrscheinlich auch in Asien, zu stationieren.

Von russischer Seite gibt es keine offiziellen Kommentare über die Nutzlast der neuen Mittelstreckenraketen. Aber generell wird angenommen, dass fast alles im russischen Arsenal, das größer ist als eine Panzerabwehrrakete, einen nuklearen Sprengkopf als Option hat. Diese Sprengköpfe befinden sich vermutlich in gesicherten »Zentrallagern«, wobei es eine gewisse Mehrdeutigkeit gibt. Diese »Gleichung« wird noch schwerer lösbar gemacht, weil präzisionsgelenkte Munition sich rasch der Kapazität von Kernwaffen nähert, zumindest im substrategischen Bereich.

Gleichzeitig streben die USA nach taktischen Kernwaffen mit niedriger Sprengkraft, was die Mehrdeutigkeit weiter erhöht. Der schlimmste Teil dieser nuklear-konventionellen Dynamik im Hinblick auf Europa wie auch auf die vorhandenen und angekündigten Waffen ist, dass in jedem Szenario ein Kernwaffenkrieg die wahrscheinlichste Endphase sein wird, wenn die Raketen erst einmal gestartet sind.

Gibt es einen Weg, diese Krise zu lösen? Die NATO-Länder haben sich hinter die US-Anschuldigungen gegen Russland gestellt und unterstützen die russischen Fragen im Hinblick auf die Einhaltung des INF-Vertrages durch die USA nicht. Aber der Wunsch, den Vertrag zu retten, bleibt. Es gibt sogar Aufrufe an die USA, Russland etwas anzubieten im Austausch für die Nichtstationierung der bodengestützten Flügelrakete 9M729 in Europa.

Symptom eines Verfalls

Trotzdem ist die Situation in einer Sackgasse. Insgesamt erscheint der Konflikt um den INF-Vertrag eher als ein Symptom denn als ein Problem an sich. Das Symptom eines breiten Verfalls der Rüstungskontroll- und Kommunikationsfähigkeiten auf beiden Seiten des Atlantiks. Russland, die USA, Deutschland, die NATO, die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit und andere Akteure verfolgen widersprüchliche Narrative über den INF-Vertrag. Schlimmer noch, Entscheidungen der USA und Russlands, die Vertragsverpflichtungen auszusetzen, machen es anderen Ländern fast unmöglich, diesem Regime beizutreten, trotz bester Absichten anderer betroffener Akteure.

Allerdings gibt es eine positive Aussicht - russische, europäische und US-amerikanische Regierungsvertreter beteiligen sich am Dialog, sodass Hoffnung besteht, dass sie - selbst wenn sie nicht in der Lage sind, sich auf die Nichteinigung zu einigen (»agree to disagree«) - erneut lernen, solche Probleme zu diskutieren. Es war ein gutes Zeichen, dass Russland erklärte, sich hinsichtlich der Stationierung von INF-Systemen in jeglichen Weltregionen zurückzuhalten, solange dort nicht ähnliche US-Systeme erscheinen.

Da die USA allerdings glauben, dass die schon stationierten Flügelraketen 9M729 einen Vertragsbruch darstellen, kann die Situation bald schwierig werden. Es gibt aber immer noch eine Chance für eine gesteuerte Auflösung des INF-Vertrages, die dessen Schaden begrenzen kann.

Eine Option wäre eine Art regionales »Nichtstationierungsabkommen«, das entweder im Russland-NATO-Rat oder direkt zwischen der EU und Russland (oder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, was allerdings für die EU schwer zu akzeptieren wäre) diskutiert werden könnte. Ein formelles Abkommen mit Kontrollmaßnahmen könnte folgen, auch wenn dies eine sehr große Herausforderung wäre. Unilaterale Erklärungen über eine Nichtstationierung und Absichtserklärungen über die Erreichung einer an die gegenwärtige Situation in Europa angepassten breiteren Sicherheitsarchitektur könnten ein guter Beginn sein.

Für den Erfolg einer solchen begrenzten Lösung ist es wichtig, sich vorher an relevante Partner zu wenden und die Grenzen ihres guten Willens zu verstehen, wie auch die roten Linien. Solche Maßnahmen und Aktionen könnten helfen, den Konflikt zu beruhigen und als »Krücke« für eine unter Verfall leidende Rüstungskontrolle zwischen Russland und den USA dienen.

Europa ist unser gemeinsames Erbe. Weil hier schon einige Male versucht wurde, unsere Zivilisation zu zerstören, besteht die Hoffnung, dass daraus genug gelernt wurde. Jetzt muss Europa eine Quelle innovativer Ansätze hinsichtlich einer Nuklearwaffenpolitik werden, die dabei hilft, Schritt für Schritt eine stabile nukleare Ordnung zu erreichen und die Möglichkeiten für nukleare Kriegführung überall in der Welt einzugrenzen.

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