Italienisches Träumchen

Wie Nationaltrainer Robert Mancini der Squadra Azzurra wieder eine Struktur gegeben hat

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Italiens Erbsenzähler freuten sich. Die Squadra Azzurra ist unter Cheftrainer Roberto Mancini auf Rekordkurs. Noch nie gelang es dem italienischen Fußballnationalteam, sich drei Spieltage vor Schluss für ein großes Turnier zu qualifizieren - nicht einmal unter den Weltmeistertrainern Enzo Bearzot und Marcello Lippi. Mit dem mühsamen, letztlich aber verdienten 2:0 am Sonnabend gegen sehr defensiv orientierte Griechen ist Mancini sogar auf bestem Wege, einen Uraltrekord zu brechen. 2019 gelangen der von ihm runderneuerten Mannschaft sieben Siege in sieben Spielen. Vor ihm liegt nur noch der legendäre Vittorio Pozzo: 1938 holte das von ihm geführte Team acht Siege in acht Spielen. Mancini sind andere Erfolge wichtiger: »Pozzo hat zwei WM-Titel gewonnen, 1934 und 1938. Das sind die Rekorde, die uns interessieren.«

Von weltmeisterlichen Vorstellungen ist seine Truppe aber noch weit entfernt. Angesichts der tapferen, spielerisch aber limitierten Griechen beschlichen manchen Zuschauer zwischenzeitlich sogar grausige Erinnerungen an den letzten Tiefpunkt des italienischen Fußballs. In der gesamten ersten Halbzeit gelang den dieses Mal in Grün gekleideten Italienern kein gefährlicher Schuss auf das griechische Tor. Das phlegmatische Hin- und Hergeschiebe des Balles mutete wie eine Wiederkehr des Nicht-Fußballs unter Giampiero Ventura beim verlorenen Qualifikationsduell gegen Schweden für die WM 2018 an.

Erst das Zusammenspiel der beiden feinen Techniker Lorenzo Insigne, von Ventura noch sträflich ignoriert, und Marco Verratti führte zum Handelfmeter, der das erlösende 1:0 brachte. Danach spielten die Italiener gefälliger und wurden auch gefährlicher. Auf den Außenpositionen machten Federico Bernadeschi und Leonardo Spinazzola viel Druck. Bernadeschi, zuletzt bei seinem Klub Juventus Turin in einem Formtief, besorgte mit einem Distanzschuss das vorentscheidende 2:0.

Die Personalie Bernadeschi illustriert recht gut das Vorgehen Mancinis. Er lässt sich von geringen Einsatzzeiten seiner Spieler in den jeweiligen Klubs nicht schrecken. Er stachelt sie vielmehr an, sich über das Nationalteam auch für den Ligaalltag zu empfehlen. Auch AS Roms Mittelfeldtalent Nicolo Zaniolo ist so ein Beispiel. Mancini tingelte sogar durch die Provinz und ernannte den damaligen Cagliari-Profi Nicolo Barella zur Stammkraft im Mittelfeld, bevor Inter Mailand sich im Sommer entschloss, den im Nationalteam gereiften Spieler für 45 Millionen Euro zu verpflichten. Italiens wohl größtes Spielmachertalent, der 19-jährige Sandro Tonali, holte Mancini bereits zu Lehrgängen der Nationalmannschaft, als er mit Brescia noch in der Serie B kickte.

Der Nationaltrainer klagt zwar auch darüber, dass italienische Profis in der Serie A einen schweren Stand gegenüber den Legionären haben. Aber er versinkt deshalb nicht in Larmoyanz, sondern wertet über seine Arbeit die durchaus vorhandenen Talente lieber auf. »Viele haben gesagt, wir hätten keine guten Spieler. Aber das stimmt nicht. Man muss nur mit ihnen arbeiten und ihnen Zeit geben«, blickt Mancini auf die depressive Grundstimmung zurück, die seine Anfangszeit begleitete.

Sein größtes Verdienst ist, dem Team Struktur verliehen zu haben. Seit mehr als einem Jahr besetzt er die Spielmacherposition doppelt. Marco Verratti und der Italo-Brasilianer Jorginho, gegen Griechenland vom Elfmeterpunkt treffsicher, sorgen für ein gepflegtes Passspiel. In den letzten Monaten erweiterte Mancini die Kreativzone mit Barella sogar auf drei nominelle Spielmacher. Er geht damit ein großes Risiko ein, vor allem Verratti ist für Ballverluste berüchtigt. Italien entwickelt dadurch aber eine große Offensivkraft, zumal die Außenpositionen mit Bernadeschi, Insigne sowie dem trickreichen Federico Chiesa gut und vor allem tief besetzt sind.

Nur ein Vollender in der Sturmmitte fehlt noch. Weder Ciro Immobile noch Andrea Belotti konnten bislang überzeugen. Erlösung verspricht hier Moise Kean. Der frühere Juventus-Angreifer, aktuell beim FC Everton, bringt sich durch Disziplinprobleme allerdings immer wieder selbst um seine Einsatzchancen. Italien droht hier die Wiederholung der Seifenoper um Mario Balotelli. Auch den hat Mancini übrigens noch nicht aufgegeben. In den Freundschaftsspielen im Frühjahr könnte er eine neue Chance bekommen.

Aktuell berauscht sich Italien an den Zwischenerfolgen. »Wir haben seit dem WM-Ausscheiden enorm viel aufgeholt. Wir haben jetzt die jüngste Auswahl aller Zeiten. Wir haben Enthusiasmus zurückgewonnen«, meinte Verbandspräsident Gabriele Gravina. Immerhin Mancini weiß, dass es sich bislang nur um ein Träumchen handelt. Den Vergleich mit dem doppelten Weltmeistertrainer Pozzo nimmt er immerhin an. »Ich will, dass die magischen Nächte wiederkommen«, meint er. Bezugsgröße waren allerdings die von ihm als Spieler selbst erlebten glorreichen 1980er und 1990er Jahre.

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