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Meine Lebenserwartung, deine Lebenserwartung

Rente mit 70: Das sei jetzt opportun, wegen der erhöhten Lebenserwartung – findet die Bundesbank. Aber die Lebenswartung gibt es gar nicht. Es kommt immer drauf an, wen man meint.

  • Roberto De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.
Es ist schon unglaublich, wie viel Lebenszeit wir mittlerweile haben. Während unsere Großeltern nicht einmal 67 Jahre alt wurden, sind heute 81 Lenze durchaus drin. Wenn man den geriatrischen Hochglanzmagazinen Glauben schenken darf, ist 81 noch nicht mal unbedingt gebrechlich, denn die aktiven Alten, die man uns präsentiert, kokettieren damit, dass 81 das neue 65 sei. Die Alten sind so jung wie nie - die pflegebedürftigen Senioren bekommen wir in der Regel ja auch nicht zu Gesicht. Sie sind ja nicht aktiv und drängen nicht in den Fokus.

Nicht wenige Prognosen erwarten außerdem einen weiteren Altersanstieg. Bis ins Jahr 2060 soll die Lebenserwartung in Deutschland sage und schreibe bei 87 Jahren liegen. Vor einigen Jahren meldeten Berechnungen eines Wirtschaftswissenschaftlers, dass alle 2016 geborenen Menschen je nach Geschlecht zwischen 90 oder 93 Jahre alt würden. Als ob es immer weiter und weiter gehen und man die Biologie austricksen könnte. Prognosen über zukünftige gefühlte Lebensalter gibt es hingegen nicht. Da wir aber angeblich immer besser medizinisch betreut werden, kann man schon vermuten, dass 87 dann das neue 61 sein wird.

Solche Überlegungen wird die Bundesbank angestellt haben, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass man von dem Zugewinn an Lebenszeit ruhig auch noch ein bisschen arbeiten könnte. Das Problem ist nur, dass das eine arg oberflächliche Betrachtung von Zahlenreihen ist. Gepaart wird diese mit fatalistischem Fortschrittsglauben, dass ein höheres Lebensalter ein Automatismus sei. Doch das ist nicht der Fall, in den USA sinkt die Lebenserwartung zum Beispiel sogar, trotz ausgezeichneter Medizin. Lebenserwartung ist nämlich eine Verteilungsfrage.

Besonders aussagekräftig hat das die Studie von Thomas Lampert, Lars Eric Kroll und Annalena Dunkelberg aus dem Jahre 2007 dokumentiert. Ihre Arbeit basierte seinerzeit auf Daten des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) und den Periodentafeln des Statistischen Bundesamtes. Sie verglichen eingangs die Verhältnisse in verschiedenen europäischen Ländern und kamen zu der Einschätzung, dass »die Chancen auf ein langes und gesundes Leben auch in den reichen Ländern einschließlich der europäischen Wohlfahrtsstaaten höchst ungleich verteilt sind«.

Im Zeitraum zwischen 1995 und 2005 betrug beispielsweise die Lebenserwartung eines Mannes durchschnittlich ein bisschen mehr als 70 Jahre, sofern er zu untersten Statusgruppe gehörte - er also unter Armut oder Armutsrisiko litt. Ein Mann, der der Gruppe von Menschen in »relativer Wohlhabenheit« angehört, hatte hingegen Aussicht mehr als 81 Jahre alt zu werden. Zwischen den Frauen verschiedener Statusgruppen waren die Unterschiede zwar etwas knapper, folgten aber diesem Trend. Die sogenannte »gesunde Lebenserwartung« betrug bei niedriger männlicher Statusgruppe nicht mal 57 Jahre - während die wohlhabende Statusgruppe mit 71 Jahren bei guter Gesundheit rechnen konnte.

Obgleich die Zahlen bei einer aktuellen Studie sicherlich variieren würden, lässt sich doch davon ableiten: Wer arm ist, wird nicht so alt, wie es jemand aus dem wohlhabenden Segment der Gesellschaft wird – ja nicht mal so alt wie der Durchschnittswert. Und er rutscht auch schneller in Krankheit ab. Die Studie stammt noch aus einer Zeit, da Hartz IV noch kein großes Thema war, stellt jedoch fest, dass die Sozialpolitik, die nun zum »Modell des aktivierenden Sozialstaates« tendieren würde, Folgen haben könnte: »Infolgedessen könnte es zu einer weiteren Ausweitung der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit kommen.«

Die Lebenserwartung an sich gibt es also gar nicht. Ganz einfach deshalb, weil es nicht dasselbe Leben für alle gibt. Die materielle Ausstattung des Daseins ist im Wesentlichen Grundlage für die Länge eines Lebens. Das meint natürlich das Einkommen ebenso, wie den freien Zugang zu sogenannten kollektiven Gütern, zu Erholungs- und Therapieangeboten. Entbehrungen kosten allerdings Lebenszeit.

Das Renteneintrittsalter erhöhen zu wollen, weil wir alle angeblich älter werden, ist an sich eine typische Arroganz von Leuten, die in solchen Statistiken gut abschneiden. Dass man aber immer noch ganz ungeniert von »der Lebenserwartung« sprechen kann, ohne dass sich daran einer stößt, ist das eigentliche Problem dieser Debatte. Denn diese Verallgemeinerung blendet aus, wie es um das zu erwartende Leben von Fall zu Fall bestellt ist.

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