Abstand schwer möglich

Assistenz und Pflege vor großen Herausforderungen

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wir müssen sehr schwierige Entwicklungen kalkulieren«, sagt Philipp Oehme von der Geschäftsleitung des ambulanten Pflegedienstes Neue Lebenswege dem »nd«. Derzeit könne man dank hochmotivierter Mitarbeiter*innen noch alle geplanten Dienste aufrechterhalten, so Oehme. Der Aufwand sei jedoch enorm. Er geht davon aus, dass sich die Verfügbarkeit und Flexibilität von Assistent*innen deutlich verringern werden. Die Coronakrise fordere ein hohes Maß an Verständnis, persönlichem Einsatz und Vertrauen, erklärt der geschäftsführende Mitarbeiter.

Ein Vertrauen auf Vorschuss - noch fehlt es vielen Assistent*innen und Assistenznehmer*innen an Gewissheit, ob sie sicher durch die Krisenzeit kommen. Die Einstufung von Assistent*innen als systemrelevant bedeutet nämlich noch lange keinen ausreichenden Zugang zu Testmöglichkeiten und Schutzausrüstung - letztere steht derzeit nicht einmal Kliniken und Hausarztpraxen in ausreichendem Umfang zur Verfügung.

Dabei birgt die Lage laut Oehme für die Assistenznehmer*innen ein sehr viel höheres individuelles Risiko, als dies aus anderen Bereichen bekannt ist. »Es geht ja nicht nur um die tagtägliche Unterstützung. Uns erreichen auch Fragen zu möglichen Krankenhausaufenthalten. Manche benötigen dort unterstützte Kommunikation. Es gibt Ängste, dort in der Versorgung eingeschränkt oder von der Kommunikation abgeschnitten zu werden.« Nicht ganz zu Unrecht: Einmal am Tag eine Stunde Besuch, allerdings nicht von Kindern unter 16 Jahren oder von Menschen mit Atemwegsinfektionen - so sieht es die zweite Verordnung zur Eindämmung des Coronavirus in Berlin für Patient*innen von Krankenhäusern vor. Das gleiche gilt für Bewohner*innen von Pflegeheimen.

Einen Notbetrieb in der Schule oder im Kindergarten kann man sich vorstellen: Vier Kinder werden von zwei Lehrer*innen oder Erzieher*innen betreut. Was aber bedeutet ein Notbetrieb für Menschen, die Anspruch auf Tages- oder Nachtpflege haben? Deren Einrichtungen im Zuge der Coronakrise schließen müssen und nun ebenfalls nur noch eine Notbetreuung anbieten dürfen - und das auch nur, wenn die Angehörigen Beschäftigungen nachgehen, die für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens als wichtig angesehen werden.

Viele Menschen mit Behinderungen verbleiben, da viele Werkstätten und Tagesförderstätten nicht geöffnet werden, bei Angehörigen oder in ambulanten oder besonderen Wohnformen. »Wir haben von vielen Angehörigen sehr verständnisvolle Rückmeldungen bekommen. Die, die viel Kontakt hatten, kommen nach wie vor weiter vorbei, halten sich aber ganz selbstverständlich an die Ein-Stunden-Regelung«, berichtet Antje W. vom Verein Lebenshilfe. Sie leitet eine Einrichtung, in der 24 Klient*innen mit hohem und komplexem Unterstützungsbedarf untergebracht sind. Manche Angehörige würden auch ganz auf Besuche verzichten. »Hier müssen wir schauen, wie es sich auf die Bewohner auswirkt«, so die Mitarbeiterin.

Schwierig werde es schon jetzt bei der Pflege: »Die Einhaltung des Mindestabstandes ist nur schwer möglich. Aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigung können die Bewohner dies auch untereinander nur schwer verstehen - es gibt also Nähe-Distanz-Probleme. Hier wird es herausfordernd, sollte es in unserer Einrichtung zu einem Infektionsfall kommen.«

Informationsblätter zum Coronavirus in den Einrichtungen reichen da nicht aus: Um Sicherheit zu schaffen und Orientierung zu geben, ist der persönliche Kontakt zu Betreuer*innen wichtig. »Ich habe vom Coronavirus über meinen Betreuer erfahren. Darüber, was zu beachten ist - zum Beispiel Abstand halten. Wenn ich einkaufen gehe, achte ich jetzt darauf«, erklärt Andreas W., der im betreuten Einzelwohnen der Lebenshilfe in Neukölln lebt.

Im Assistenzbetrieb Neue Lebenswege gibt es einen Corona-Krisenstab, an dem alle Teams live teilnehmen können, berichtet Philipp Oehme. Hier diskutiere man, auch unter Einbeziehung der Betriebsräte, mehrmals wöchentlich die damit einhergehenden Veränderungen. Aufklärung und praktische Unterstützung stünden neben der Versorgung an höchster Stelle, so Oehme.

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