Die Kultur überlebt im Netz

Die Schließung von Kultureinrichtungen führt zu einem Boom von Streaming-Angeboten.

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Zwei Menschen in Schwarz vor grünen Pflanzen und weißer Wand, zwischen ihnen ein Blatt Papier mit fünf großen Buchstaben: »VIRAL«. So nennt sich ein neues Online-Literaturfestival, initiiert von der Schweizer Literaturzeitschrift »Glitter«. Abends streamt das Festival Live-Lesungen von deutschsprachigen Autor*innen aus verschiedenen Ländern.

Lea Schneider und Tillmann Severin schalten sich aus Berlin zu. Sie nippen an ihren Weißweingläsern. Noch ein paar Minuten, ehe um 20 Uhr ihre Lesung beginnt. »Wir haben den halben Tag damit verbracht, unser Quasi-Studio einzurichten«, erzählt die Lyrikerin Lea Schneider, die an diesem Abend Gedichte aus ihrem neuen Band »Made in China« vorstellt. Auf Bühnen haben sie und der Schriftsteller und Lyriker Tillmann Severin schon oft gelesen. Aber vor der Kamera und ohne Publikum, das direkt reagiert, sei das etwas Neues, sagt Severin. Der private Raum werde zu einem öffentlichen.

Das Internet ist in diesen Zeiten, in denen wegen der Corona-Pandemie direkter Kontakt und damit auch kulturelle Veranstaltungen wie Diskussionen, Performances, DJ-Battles, Opern oder Vernissagen verboten sind, voll von Ad-Hoc-Veranstalter*innen, die in ihren Küchen oder auf Sofas sitzen und in Handy- und Laptopkameras sprechen. Das klingt manchmal unsicher, oft lustig, aber meist irgendwie nah und vertraut. Kultur wird direkt von Wohnzimmer zu Wohnzimmer gestreamt - ohne den Umweg über Bars, Konzerthallen und Theater.

In Berlin ist in dieser Woche die digitale Kultur-Plattform Berlin (a)live online gegangen, konzipiert von der Digitalagentur 3pc, umgesetzt mit der Berliner Senatsverwaltung für Kultur. In Pink-, Lila- und Rottönen changiert die Startseite, die in den letzten Tagen zum Sammelbecken für die unterschiedlichsten Streaming-Angebote geworden ist: Live-Musik von Singer-Songwritern, klassische Konzerte oder die Plenarsitzung des Berliner Abgeordnetenhauses. Abends liest Uwe Ochsenknecht für Kinder, mittags gibt eine Tänzerin Ballettunterricht.

Die Vielfalt ist gewollt. Berlin (a)live sei ein Experimentierfeld in Zeiten der Isolation, sagt Armin Berger, Geschäftsführer von 3pc. Dabei gehe es nicht nur um die großen Opernhäuser, sondern um alles, was sich Menschen in diesen Tagen ausdenken. Ausgangspunkt war die Schließung der Kulturhäuser. »Das hatte so etwas von Weltuntergang, von Zombie-Apokalypse«, sagt Berger. Die Idee war, dem Zusammenbruch des kulturellen Lebens etwas entgegenzusetzen. Die Agentur schickte ein kurzes Konzept an Kultursenator Klaus Lederer (Linke), der sofort Unterstützung zusagte. Innerhalb von wenigen Tagen ging die Seite online.

Berlins Ruf als kulturelles Zentrum beruhe auf der Arbeit von unzähligen Künstler*innen in jeder nur vorstellbaren Sparte, betont Daniel Bartsch, Sprecher der Kultursenatsverwaltung. »Die kreative Kraft Berlins ist ja nicht weg, nur weil wegen notwendiger Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie öffentliche Kultureinrichtungen wie Theater, Museen, Clubs schließen müssen«, ist er überzeugt. »Gerade in Zeiten erzwungenen ›Unter-sich-Seins‹ wird uns nicht nur die Bedeutung der Entschleunigung bewusst. Sondern auch, dass uns etwas fehlt: die Kunst und die Künstlerinnen und Künstler, ohne die sie nicht entsteht«, meint Kultursenator Lederer. Berlin (a)live trage Kultur für Alle zusammen.

Beim Streaming geht es aber nicht nur um Sichtbarkeit - sondern auch darum, Künstler*innen finanziell zu unterstützen. Die Krise trifft vor allem diejenigen hart, die von Live-Auftritten leben. Deswegen lud der Jazz-Club Donau115 in Berlin-Neukölln vor zwei Wochen spontan zu einer - online noch verfügbaren - Podiumsdiskussion zum Thema »Jazz unter Quarantäne«. Die Musikerinnen und Clubbetreiber*innen unterstrichen, dass sie die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie unterstützen. Trotzdem stellt sich die Frage: Wie sollen sie überleben? »Die freie Musikszene - besonders der Jazz - lebt sehr prekär«, sagt Niklas Alt, einer der Betreiber der Donau115.

Die Kanne, die bei Konzerten sonst durch die Reihen geht, um das Eintrittsgeld einzusammeln, bekam deshalb einen virtuellen Zwilling. Bisher habe es eine ganz gute Spendenbereitschaft bei den online gestreamten Konzerten gegeben, sagt Niklas Alt. Auch für den Jazz-Club selbst sei die Situation nicht einfach. »Uns brechen unsere kompletten Einnahmen weg - aber wir haben trotzdem laufende Kosten.« Wie es weitergeht, hänge davon ab, wie sich die Situation über die nächsten Monate entwickele. Klar aber ist: Gestreamt wird weiter. Diesen Samstag ab 20 Uhr ist etwa der Gitarrist Ronny Graupe über den YouTube-Kanal der Donau115 zu hören.

Wie sich das aufgeflammte Interesse an Streaming-Angeboten und die Spendenbereitschaft entwickeln, ist ungewiss. Viele Künstler*innen probieren neue Wege aus - unter anderem über Zoom, Facebook oder YouTube. Der Schriftsteller Saša Stanišić liest abends live auf Instagram und Twitch und sammelt Spenden für Einsätze der Sea-Watch 3, für die Refugee Law Clinic Berlin und ein Projekt für Obdachlose.

Im Literaturbetrieb sei die Affinität zum Digitalen sehr unterschiedlich ausgeprägt, sagt Tillmann Severin. »Ich habe das Gefühl, dass da gerade viel passiert.« Für Neuerscheinungen sei es - auch durch die Absage der Leipziger Buchmesse - derzeit schwer, sagt der Autor, der auch Verleger beim Verlagshaus Berlin ist und sich bei den »Unabhängigen Lesereihen« engagiert. Das Verlagshaus übernehme neuerdings die Portokosten bei Bestellungen - um Anreize für Buchkäufe zu setzen. Selbst wenn Menschen während der Krise mehr lesen, bedeute das nicht, dass sie deswegen auch kaufen. »Meistens hat man ja auch noch einen Haufen Bücher zu Hause«, sagt Severin.

Es wird sich zeigen, was die Krise für Musiker*innen und kleine Verlage bedeutet - und auch, ob sich die Begeisterung für digitale Kulturangebote hält. Berlin(a)live wird von der Senatskulturverwaltung mit einer mittleren fünfstelligen Summe gefördert - erst einmal bis zum 19. April. Das heißt nicht, dass die Macher*innen nicht schon ein bisschen weiter denken. »Ich habe schon das Gefühl, dass wir alle mehr Lust auf Experimente bekommen. Dann könnte die Plattform auch dauerhaft eine Berechtigung bekommen«, sagt Armin Berger.

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