Ein ganz spezielles Semester

Studierendenvertretungen fordern Aussetzung der Regelstudienzeit in der Coronakrise

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 3 Min.

Heimischer Schreibtisch und Videochats statt Hörsaal und Mensa: Für Berlins Studierende spielt sich das Sommersemester vor allem im digitalen Raum ab. Wegen der Corona-Pandemie hatten sich die Wissenschaftsminister der Länder auf ein virtuelles Semester verständigt, das als »Kreativsemester« flexibel und ohne unnötigen Leistungsdruck ablaufen sollte. Zudem sollte das »Corona-Semester« grundsätzlich nicht als Regelstudienzeit angerechnet werden. Auch darauf hatte man sich bundesweit geeinigt.

Doch in der Hauptstadt trauen die Asten dem Braten nicht. »Bis auf eine Zusage von Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach vom April, dass das Semester nicht als Fachsemester gezählt wird, sehen wir bislang keine klare Regelung in der Sache«, schimpft Gabriel Tiedje, Bachelorstudent im Fach Wissenschaft und Technikgeschichte an der TU Berlin und Mitglied im Asta. So würde etwa das Studierendenwerk an der TU aktuell von jedem Studierenden einen Einzelnachweis darüber verlangen, inwiefern man durch Corona individuell am Studieren behindert wurde. »Das Digitalsemester war und ist tatsächlich für alle Studenten von mehr Arbeit als normalerweise geprägt«, sagt Tiedje.

»Es gibt Dozenten, die haben wöchentliche Leistungsnachweise eingefordert, um zu prüfen, ob man bei der Videokonferenz auch brav aufgepasst hat.« Er selbst musste Unterschriften von Dozenten wochenlang hinterlaufen. Auch die Absprachen über Präsentationen und Hausarbeiten erwiesen sich als schwierig. Der Studierendenvertreter kritisiert, dass das vermeintliche »Kreativsemester«, das mit dem Versprechen auf maximale Kulanz und flexible Studien- und Studienabschlussmöglichkeiten anfing, in der Praxis zumeist wie ein herkömmliches Sommersemester daher kam - nur mit digitalen Mitteln.

Verschärft werde die Lage zusätzlich durch eine unsichere wirtschaftliche Entwicklung und grundlegende Existenzängste, die viele Studierende plagten. »Von gewöhnlichen Bedingungen kann wirklich keine Rede sein, deswegen fordern wir mit Nachdruck die Aussetzung der Regelstudienzeit für alle«, sagt Tiedje.

Gemeinsam mit den Asten der Beuth-Hochschule für Technik, der Kunsthochschule Weißensee und der Hochschule für Technik und Wirtschaft sowie dem Refrat der HU ruft der Asta der TU alle Studierenden dazu auf, keine Leistungsnachweise bei der Studierendenverwaltung einzureichen. Auch einen Antrag auf Verlängerung der Bafög-Förderung soll nicht gestellt werden. Die Zeit drängt: Die Vorlesungszeit geht nur noch bis zum 24. Juli. »Wir fordern jetzt die Solidarität der Universitäten ein, die uns vor Semesterbeginn zugesichert wurde«, sagt Asta-Mitglied Tiedje.

Unterstützung für die Forderung der Asten kommt von der Bildungsgewerkschaft GEW. »Die Chancengleichheit im Studium ist im Digitalsemester nicht gegeben«, sagt Martina Regulin, Leiterin des Vorstandsbereichs Hochschule und Lehrer*innenbildung beim GEW-Landesverband Berlin. »Das Corona-Semester im virtuellen Raum hat nicht nur für viele Studierende Mehrarbeit gebracht, sondern nicht selten auch ihre finanzielle Situation tangiert.«

So sei nicht wenigen Studierenden wegen der Pandemie der Nebenjob weggebrochen. »Gerade auch, um die Zuwendungen von Stipendien und die Arbeitsverträge von Wissenschaftlichen Mitarbeitern an den Unis weiterlaufen lassen zu können, darf das Sommersemester nicht als Regelstudienzeit gelten«, fordert Regulin. Die Gewerkschafterin sieht Berlins Wissenschaftsstaatssekretär Krach (SPD) in der Pflicht, dafür einen rechtlich verbindlichen Rahmen für die Universitäten zu schaffen. »Eine individuelle Prüfung der coronabedingten Studiensituation darf es aus unserer Sicht nicht geben«, so Regulin.

Dem »nd« sagte der Wissenschaftsstaatssekretär: »Aktuell ist eine Änderung des Berliner Hochschulgesetz auf Initiative der Senatskanzlei - Wissenschaft und Forschung mit Blick auf eine Ausnahmeregelung für das Sommersemester 2020 aufgrund der Covid-19-Pandemie in Abstimmung«, sagt Krach. Berlin plane mit der Gesetzesänderung, eine um ein Semester verlängerte »individuelle Regelstudienzeit« einzuführen. »Wir stehen zu unserem Versprechen«, versichert der Wissenschaftsstaatssekretär. »Pandemiebedingte Verzögerungen sollen sich mit dieser Regelung nicht nachteilig auf das Studium oder das BAföG auswirken.« Die Gesetzesvorlage zur »Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Bereich des Hochschulrechts« solle im Senat in der Sommerpause beschlossen und im Anschluss im Parlament beraten werden. »Mitte Oktober tritt sie dann voraussichtlich in Kraft«, verspricht er.

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