Krisenpolitik in Zeitlupe

Interne Differenzen lähmen die Europäische Union.

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

Kaum ein europäisches Land ist derzeit so stark von der Corona-Pandemie betroffen wie Belgien. Die Zahl der gemeldeten Infektionen lag in den vergangenen zwei Wochen bei 139 Fällen auf 100 000 Einwohner. Nur fünf Länder in der EU hatten in diesem Zeitraum höhere Werte. Deswegen war es nur eine Frage der Zeit, bis das Virus auch das Umfeld von Spitzenpolitikern erreicht. Mitte der Woche wurde bekannt, dass sich ein Bodyguard von Charles Michel infiziert hat. Der belgische EU-Ratspräsident musste in Quarantäne und der für Donnerstag und Freitag geplante Sondergipfel des Staats- und Regierungschefs wurde um eine Woche verlegt.

Die Verschiebung steht sinnbildlich für die derzeitige Situation des Staatenverbunds, der bei seinem Krisenmanagement nur langsam vorankommt. Nicht nur der Brexit und seine Folgen sind ein Dauerthema, das beim Gipfel erneut auf der Tagesordnung stehen sollte. Die Briten haben die Europäische Union zu Jahresbeginn verlassen. Doch die Sache wird erneut kompliziert, weil die Londoner Regierung durch ein Binnenmarktgesetz gegen Teile des Brexit-Vertrags verstoßen will. Die britischen Pläne könnten Sonderklauseln für Nordirland aushebeln, die eine harte Grenze zum EU-Staat Irland vermeiden sollen.

Daneben schwelen viele weitere Konflikte innerhalb der EU und mit ihren direkten Nachbarn. Nachdem die Europäische Kommission in dieser Woche ihren Vorschlag für einen Migrationspakt vorgestellt hat, gab es Widerspruch aus Ungarn und Tschechien. Den Regierungen dieser Länder missfällt, dass ihre Staaten in Ausnahmefällen dazu verpflichtet werden sollen, Schutzsuchende aufzunehmen. Zudem verlangen sie Verhandlungen mit Diktaturen in Nordafrika über sogenannte Hotspots, wo die Geflüchteten dann zusammengepfercht und registriert werden sollen. Die Idee ist nicht neu, aber es gibt bislang keine entsprechenden Abkommen mit den Nordafrikanern.

Trotzdem hat die EU Mittel und Wege gefunden, wie Asylsuchende gestoppt werden können, bevor sie Europa erreichen. Zu diesem Zweck kooperiert die Europäische Union unter anderem mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Sie wurde von den Europäern ausgebildet und mit technischen Mitteln unterstützt. Ein Bericht, der kürzlich von Amnesty International vorgestellt wurde, dokumentiert Menschenrechtsverletzungen, die an Geflüchteten begangen werden, die auf dem Mittelmeer von der »Küstenwache« aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht wurden. An der Tagesordnung seien unter anderem rechtswidrige Tötungen, Verschwindenlassen und Ausbeutung von Migranten, heißt es in dem Bericht. Täter seien sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure.

In Libyen herrscht seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 Krieg. Die EU-Staaten haben am Montag Sanktionen gegen einzelne Unternehmen aus der Türkei, Jordanien und Kasachstan beschlossen, weil diese gegen das UN-Waffenembargo gegen Libyen verstoßen hatten. Diese Maßnahmen sind angesichts der zahlreichen Akteure, die in dem Konflikt mitmischen, eher symbolisch. Die Regierung in Tripolis wird militärisch von der Türkei unterstützt, der oppositionelle General Khalifa Haftar von einer Reihe anderer Länder, darunter Ägypten und Jordanien. Widersprüchlich bleibt, dass etwa die Bundesrepublik zwar die Sanktionen der EU befürwortet, aber Rüstungsgüter an Länder liefert, die am libyschen Konflikt beteiligt sind und Fluchtursachen schaffen.

Das gilt unter anderem für die Türkei. Als auf EU-Ebene über den Konflikt um Erdgas im östlichen Mittelmeer zwischen Griechenland und Zypern auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite diskutiert wurde und die Frage im Raum stand, ob man mit Sanktionen gegen die Türkei vorgehen sollte, zählte die Bundesregierung zu den Bremsern. Hier wurden auch Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich deutlich. Beim Krieg in Libyen unterstützen Franzosen und Türken unterschiedliche Parteien. Die Regierung in Paris gilt als Verbündete des Rebellengenerals Haftar. Die Franzosen wollen das Machtstreben der Türkei in der Mittelmeerregion insgesamt eindämmen und hatten deswegen Militärmanöver mit Zypern und Griechenland abgehalten. Präsident Emmanuel Macron bemerkte kürzlich, er sehe in der Türkei »keinen Partner« mehr und drohte im Streit um Bohrrechte in der Ägäis mit Sanktionen.

Die Bundesregierung legte sich hingegen ins Zeug, um ein hartes Vorgehen von EU-Staaten gegen das von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan autoritär regierte Land zu verhindern, weil es aus ihrer Sicht nicht als wirtschaftlicher und geostrategischer Nato-Partner verloren gehen soll. Hinzu kommt, dass Erdoğan die zahlreichen Geflüchteten, die sich in seinem Land aufhalten und am liebsten nach Europa weiterreisen wollen, als Druckmittel gegen die EU benutzen kann.

Deswegen muss Erdoğan keine allzu große Angst vor sehr strengen Strafmaßnahmen der Europäischen Union haben. Seine dortigen Partner sehen auch gerne darüber hinweg, dass die Türkei nicht nur mit ihren militärischen Aktivitäten in Libyen, sondern auch durch ihre Überfälle auf kurdische Gebiete in Syrien als Aggressor in der Region auftritt. Insbesondere die Bundesregierung setzt auf gütliche Einigungen mit Erdoğan. Dafür sind nun wichtige Voraussetzungen geschaffen worden. Nach Gesprächen mit Kanzlerin Angela Merkel und Charles Michel hat sich der türkische Präsident bereit zu einem Dialog mit Griechenland gezeigt.

Damit fehlen Zypern nun auch Gründe, die Sanktionen der EU gegen Belarus weiter zu blockieren. Der Inselstaat wollte diesen nur zustimmen, wenn auch Strafmaßnahmen gegen die Türkei beschlossen werden. Letztere dürften nach dem Dialogangebot vom Tisch sein, wenn es keine großen Provokationen aus Ankara mehr gibt.

Die EU ist sich grundsätzlich einig, dass sie eine Drohkulisse gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko aufbauen will. Dieser hält sich trotz des Vorwurfs der Wahlfälschung und großer Proteste weiterhin im Amt. Weil ihnen die Planungen der Europäischen Union nicht schnell genug gehen, haben die baltischen Staaten schon eigene Schritte unternommen. Estland, Lettland und Litauen einigten sich dieser Tage auf eine Ausweitung der Strafmaßnahmen, die sich gegen mehr als 100 Personen richten, die für die Fälschung der Präsidentenwahl in Belarus und die Gewalt gegen friedliche Demonstranten verantwortlich gemacht werden. Den Betroffenen wird somit die Einreise in die drei baltischen EU-Länder verboten.

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