Zwischen Kiez und Moloch

Die Filmreihe »Berlin international« im Zeughauskino zeigt ausländische Bilder von Groß-Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Anlässe sind immer Glücksache. Hundert Jahre Groß-Berlin für eine Filmreihe über filmische Perspektiven auf die Stadt zu wählen, die ab 1. Oktober fast täglich bis zum 21. November im Berliner Zeughauskino gezeigt wird (mit einführenden Vorträgen), darauf muss man erst einmal kommen. Aber es stimmt schon: Durch die Stadtgebietsreform, die Berlin 1920 zu Groß-Berlin erweiterte, war die deutsche Hauptstadt auf dem Weg zu jenem Moloch der 20er Jahre, der zur Legende wurde.

Doch die gezeigten Filme gehen nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch darüber hinaus - bis Anfang der 90er Jahre, als Ost- und Westberlin immer noch zwei sehr getrennte Stadt-Biotrope waren, die nun zu einer anderen Art von neuem Groß-Berlin vereinigt wurden. Der lange Weg Berlins zurück zur Weltmetropole.

Die Filme dieser Retrospektive, ausgewählt von Kurator Jan Gympel, kultivieren sämtlich den fremden Blick, zumal alle Regisseure aus dem Ausland kommen. Oft sind es eher unbekannte Filme bekannter Regisseure, wie »Allemagne année 90 neuf zéro« von Jean-Luc Godard, eine französische Produktion von 1991. Der Titel spielt bewusst auf Roberto Rossellinis »Deutschland im Jahre Null« von 1948 an. Dieser sah mit dem Blick eines Kindes auf die Trümmerlandschaft des zerstörten Nachkriegsberlin, das auch moralisch eine Wüste glich. Und jetzt, im Jahre 1990? Godard treibt die Spielfilmhandlung in die Regionen des filmischen Essays - das funktioniert als Aufhänger wie ein Assoziationsmaschine und setzt auch eine gewisse Seherfahrung voraus, die Art betreffend, wie dieser Regisseur Worte und Bilder zusammenbringt. Ebenso fließend wechselt die Sprache vom französischen Kommentar im Off zum deutsch gesprochenen Dialog.

Godard sucht die Symbole einer Übergangszeit. Gleich zu Beginn sehen wir einen Mercedes mit Münchner Kennzeichen über das am Boden liegende Straßenschild »Karl-Marx-Straße« fahren. Derart sind die Kommentare Godards zur deutschen Einheit, die er mit Skepsis sieht. Wie vielen Franzosen war ihm die DDR vielleicht sogar näher als die BRD. Ein Hegel-Zitat klingt an: »Wenn also die Philosophie hervortreten soll bei einem Volk, muss ein Bruch stattgefunden haben in der Realität.« Diesen Bruch bis in die Mentalitäten hinein will Godard erforschen. Ein Puzzle, das sich jedoch nicht recht zusammenfügen lässt. Wir gehen durchs Goethe-Haus in Weimar, Kafka besucht uns, und dazu hören wir Heideggers »Unterwegs zur Sprache«.

Ein ostdeutsches Zimmermädchen mit hinreißend spießigem Kittel in der stehen geblieben Mode der Zeit antwortet auf die Frage »Sie haben ja auch die Freiheit gesucht?« mit dem hilflosen Satz: »Arbeit macht frei«, derweil sich Buchenwald mit seinem KZ über die Klassikerstadt Weimar beugt, es gleichsam in den Würgegriff nimmt. Das sind die Assoziationsbögen des französischen Filmphilosophen, so überraschend wie überfordernd in ihrem rasanten Gang durch Zeiten und Gegenden.

Beim Sehen fragt man sich: Wer wagt das heute denn noch, den Zuschauer so rücksichtslos zu überfordern? Wie ein lebendiger roter Faden läuft Eddie Constantine (der bald darauf starb) als Geheimagent Lemmy Caution durch Berlin, ähnlich wie Bruno Ganz in Wim Wenders »Der Himmel über Berlin« und mindestens ebenso fremd.

Fast schon somnambul scheint der Zugriff Claude Chabrols in »Dr. M«, ebenfalls von 1989/90. Dieser Film spielt im noch getrennten Berlin und ist eine Hommage an Fritz Langs »Das Testament des Dr. Mabuse«. Ein »Selbstmordvirus« geht um in beiden Teilen der Stadt, irgendwo sitzt jemand, der die Menschen manipuliert und unter seinen Willen zwingt. Es geht um mediale Gurus, einen tödlichen Ferienclub namens »Theratos« und Videowände, von denen eine junge Frau die Botschaft verbreitet: »Es ist Zeit zu gehen.« Ein »Stoff, aus dem die Träume sind«, wie es hier heißt? Offenbar. Etwas Ungutes liegt in der Luft - und wegen der genau geschilderten Atmosphäre lohnt es sich, diesen etwas chaotischen und mitunter kolportageartigen Film dennoch zu sehen.

So hat jeder der etwa 30 gezeigten Filme etwas, wegen dem man ihn wieder aus der Vergessenheit holen sollte, in der er ganz zu verschwinden droht. Es sind vielleicht keine Meisterwerke, aber Filme, die ein wechselndes Zeitkolorit der Stadt vermitteln - von 1924 bis 1995. So auch ein kaum bekannter DEFA-Film aus dem Verbotsjahrgang 1965, einer, über den wenig gesprochen wurde: »Ohne Pass in fremden Betten« von Vladimír Brebera mit Miroslav Horníček in der Hauptrolle, als eine Art moderner Schwejk. Das Buch schrieb der damals noch junge Jurek Becker. Vielleicht traute man sich nicht, diesen Film zu verbieten, weil er zwar eine DEFA-Produktion war, aber mit tschechischem Regisseur und Hauptdarsteller (daneben agieren Christel Bodenstein, Gerhard Bienert und Eva-Maria Hagen). Eine Komödie? Im Film fällt der Satz: »Das ist Satire, da verstehen die wenigsten was von.«

Die Szenerie am Berliner Ostbahnhof: Der Tscheche Václav Jelínek hat seinen DDR-Besuch eigentlich beendet. Doch bis der Zug nach Prag abfährt, hat er noch eine halbe Stunde. Er lässt Gepäck und Pass im Zug und geht auf den Vorplatz, wo ein Riesenrad steht - es ist noch Zeit, ein paar Runden zu drehen. Aber das Riesenrad havariert, Václav ist gefangen, der Zug fährt ohne ihn ab. Was tun als passloser Tscheche unter lauter Deutschen? Vielleicht einen Polizisten fragen oder auch den exzentrischen Bahnhofsvorsteher (Gerd E. Schäfer). Doch den hatte er, um Auskunft bittend, bereits bei einer Lautsprecherdurchsage gestört - und nun? »Wenn zwei Uniformierte sich streiten, macht man sich als Dritter besser unsichtbar.« Da spürt man die Angst, die einen Tschechen ohne Pass in Berlin überfällt - 20 Jahre nach Kriegsende.

Eine Odyssee beginnt für Václav, aber so freundlich und heiter wird dabei die deutsch-tschechoslowakische Freundschaft zelebriert, dass es hier selbst für übellaunige Zensoren nichts zu verbieten gab. Diese kleine Rundreise durch Berlin und Umland im Jahre 1965 mutet heute ebenso heimisch wie befremdlich an. So ist das wohl, wenn mehr als ein halbes Jahrhundert zwischen den gesehenen Bildern und dem Heute liegt.

»Berlin international. Rare Blicke ausländischer Filmschaffender 1924-1995«, bis 21. November im Zeughauskino, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, Berlin.

Mehr Infos unter: www.dhm.de/zeughauskino

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