Geheimdienst außer Kontrolle

Eine 88-minütige Fernsehdokumentation beleuchtet die Arbeit und Skandale des Verfassungsschutzes

»Ich brauche Ressourcen, ich brauche Ressourcen, und das ist kein Selbstzweck«, leitet Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang die Schlussworte einer 88-minütigen Fernsehdokumentation ein, und sogleich kontert Heribert Prantl. Der Journalist und Jurist warnt, dass das in den vergangenen Jahren die übliche Reaktion gewesen sei, wenn Sicherheitsbehörden versagt haben. »Auf diese dümmliche Argumentation ist der Gesetzgeber jetzt jahrzehntelang reingefallen.«

Dass der Film »Früh.Warn.System - Brauchen wir diesen Verfassungsschutz?« der Autoren Christian H. Schulz und Rainald Becker, der am Dienstag um 22 Uhr erstmals auf Arte ausgestrahlt wird, zur PR-Veranstaltung der Behörden verkommt, wussten die Autoren zu verhindern. Sie beleuchten die Verfassungsschutzskandale der vergangenen Jahre, ohne dabei in eine Nacherzählung zu verfallen und ohne der Behörde nach dem Mund zu reden, die partout noch mehr Ressourcen will und eigenes Versagen nur zu gern mit Rahmenbedingungen begründet, die in den Händen der Politik liegen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz gab sich alle Mühe, gut dazustehen. »Diese Aufnahmen und alle folgenden sind für den Film mithilfe des Bundesamtes nachgestellt worden«, kommentiert der Schauspieler Axel Prahl, der als Sprecher durch die kurzweilige Dokumentation führt. »Teilweise an Originalschauplätzen und mit realen Mitgliedern des Observationsteams, die alle nicht erkannt werden dürfen.« Vor den Kameras wird die Observation des Rizin-Bomben-Bauers von Köln nachgestellt, die 2018 zur Ergreifung eines möglichen Attentäters führte. Ausschlaggebend waren damals die Hinweise eines ausländischen Partnerdienstes, der im Bereich der Online-Überwachung vermeintlich den Vorsprung hat, den deutsche Behörden gerne aufholen würden. Verfassungsschutzmann Gilbert Siebertz, der kürzlich noch im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag, vier Jahre nach dem Attentat, die Ansicht vertrat, das Bundesamt für Verfassungsschutz habe »auch in der Nachsicht keine Fehler gemacht«, rechtfertigt die Forderung nach digitalen Hilfsmitteln. Mit »dem kleinen Staatstrojaner« solle künftig die Kommunikation auf digitalen Nachrichten-Apps, wie Whatsapp oder Telegram mitgehört werden können.

Ein Schwachpunkt der Dokumentation ist, dass nicht darauf eingegangen wird, welche Gefahr in der Ausnutzung digitaler Sicherheitslücken besteht. In einem Diskussionspapier zum Thema »Cybersicherheit«, das Arbeitsgruppen der Linken im Bundestag veröffentlichten, wird aufgezeigt, dass durch gezielt offen gehaltene Sicherheitslücken, die für die Überwachung von Einzelpersonen verwendet werden sollen, eine größere Gefahr für die Öffentlichkeit entsteht. Im Papier wird der Fall WannaCry herangezogen, bei dem das Schadprogramm im Mai 2017 eine von der NSA offen gehaltene Sicherheitslücke nutzte und damit in zahlreiche Windows-Systeme eindrang. Letztlich können diese Sicherheitslücken auch für schwerwiegende Angriffe auf IT-Systeme von Krankenhäusern oder andere zivile Versorgungssysteme genutzt werden.

Zu den Stärken der Dokumentation gehört, dass die oft verschwiegene antifaschistische Arbeit gegen rechtsextreme Strukturen mehr Raum bekommt, statt nur als Feigenblatt einer abgebildeten kritischen Gegenstimme herhalten zu müssen. Neben Ulli Jentsch vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum benennt auch die Thüringer Linke-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss die Versäumnisse der Behörde, wenn es um Rechtsradikalismus und das weiterhin unkontrollierbare V-Mann-Wesen geht. Weitere zivile Forscher*innen belegen die außerhalb von Behördenstrukturen gewonnenen wesentlichen Erkenntnisse. König-Preuss weist auf Recherchen der antifaschistischen Plattform Exif hin, die wenige Tage nach dem Mord an Walter Lübcke die Verbindungen des Mörders zu Combat 18, der NPD und weitere extrem rechte Strukturen offenlegten.

Im Gespräch mit »nd« äußerte König-Preuss: »Ich verlasse mich auf antifaschistische und zivile Recherche. Diese wird aber kontinuierlich diskreditiert und kriminalisiert, auch durch den Verfassungsschutz.« In der Dokumentation sind selbstkritische Worte von Verfassungsschützern kaum zu hören. Einzig der amtierende Vizepräsident des Bundesamtes, Sinan Selen, fordert: »Wir brauchen eine ehrliche und offene Fehlerkultur, in der es auch erlaubt ist, Fehler offenzulegen.« Eine bislang kaum gehörte Position, die der Sprecher sogleich mit Selens Vita herleitet, denn Selen ist »der erste türkischstämmige, der in den konservativen Kreisen der Sicherheitsbehörden so weit aufgestiegen ist«.

Nicht unerwähnt bleibt auch das Problem der parlamentarischen Kontrolle, die angesichts des massiven Stellenaufwuchses bei den Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren und der angestrebten technischen Aufrüstung nicht Schritt halten kann. Heribert Prantl spart nicht mit Kritik und blickt auf die Strukturen der Geheimdienstgremien des Bundestages: »13 Leute kontrollieren in diesem Rechtsstaat 10.000 bis 15.000 Geheimdienstler. Jeder weiß, dass das ein Witz ist. Aber mit diesem Witz geben wir uns jetzt seit Jahrzehnten ab.«

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