Das gemeinsame Interesse

Trotz aller Unterschiede kann die arbeitende Klasse die eigene Lage verbessern: Die Schriften von Friedrich Engels bieten wertvolle Hinweise für aktuelle Debatten um eine »Neue Klassenpolitik«

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 6 Min.

In der radikalen und wissenschaftlichen Linken kursiert seit einiger Zeit das Zauberwort der »Neuen Klassenpolitik«. Die Wiederentdeckung der sozialen Frage soll nun wahre Wunder bewirken. Die »klassische Klassenpolitik« müsse mit Kämpfen gegen Rassismus, Sexismus und Nationalismus verbunden werden, um ein scharfes Schwert im Kampf gegen Neoliberalismus und Rechtspopulismus zu schmieden. Dies ist zweifellos richtig, nur fällt es bisweilen schwer, daran das genuin »Neue« auszumachen - was aber auch gar nicht weiter schlimm ist.

An diesem Sonnabend jährt sich zum 200. Mal die Geburt von Friedrich Engels. Doch während der 200. Geburtstag von Karl Marx vor zwei Jahren mit allerlei Veranstaltungen begangen wurde, verliert man Engels etwas aus den Augen - nicht nur wegen Corona. Während sich viele Linke positiv auf Marx beziehen oder sich selbst als Marxist*innen bezeichnen, gibt es keinen »Engelsismus«. Wenn, wird dieser Begriff als Schimpfwort verwendet. Zwischen Marx und Engels hätte es grundlegende theoretische Unterschiede gegeben. Marx sei der große Theoretiker gewesen, Engels hingegen nur der Verbreiter der Theorie, ein Agitator ohne eigene Substanz, so eine häufig gehörte Kritik.

Dass Engels jedoch zweifellos als eigenständiger Denker, als Intellektueller des 19. Jahrhunderts von eigenem Format zu verstehen ist, den es aus dem Schatten von Marx zu befreien gilt, davon zeugen neben Neuerscheinungen zu Engels - wie der von Bruno Kern herausgegebene Engels-Band »Im Widerspruch denken« oder auch Michael Krätkes Buch »Friedrich Engels oder: Wie ein ›Cotton-Lord‹ den Marxismus erfand« - vor allem dessen Texte selbst. Für die viel diskutierte »Neue Klassenpolitik« ist insbesondere sein Frühwerk von geradezu brennender Aktualität.

Engels reiste Ende November 1842, im Alter von 22 Jahren nach England, um in Manchester in der väterlichen Firma Ermen & Engels seine Berufsausbildung fortzusetzen. Dort sah er den damals fortgeschrittensten Kapitalismus, die Industrialisierung und die damit zusammenhängende Verelendung der Menschen mit eigenen Augen. Erste Eindrücke verarbeitete er in Zeitungsartikeln und Berichten. Zwischen September 1844 und März 1845 brachte er als 24-Jähriger seine Studie »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« zu Papier, jenes grundlegende Werk der marxistischen Klassenanalyse.

Das Buch ist ein Pionierwerk der Sozialforschung und begründete Engels’ Ruhm. Darin macht er die frühe Industrialisierung mit der Umstellung von Handarbeit auf Maschinen für die Massenarmut der Arbeiterschaft verantwortlich. Er schreibt: Die »Revolutionierung der englischen Industrie ist die Basis aller modernen englischen Verhältnisse, die treibende Kraft der ganzen sozialen Bewegung«.

Diese Revolution will Engels nun genau erfassen. Viel mehr als Ethnologe denn als Soziologe oder gar als Ökonom taucht Engels in die Lebenswelt der englischen Proletarier*innen ein und beschäftigt sich mit den konkreten Verhältnissen, unter denen die arbeitenden Menschen leben müssen. Er beschreibt eindrücklich, wie die Lebensverhältnisse der arbeitenden Menschen in England »keine Reinlichkeit, keine Bequemlichkeit, also auch keine Häuslichkeit« zulassen. Er berichtet von der Enge, dem Gestank und den heruntergekommenen Wohnungen der »schlechtesten Viertel« und zeigt, wie die Menschen arbeiten müssen, sich kleiden und ernähren.

Geschlechterverhältnisse, die Gliederung in verschiedene Arbeitszweige und deren Auswirkungen auf die Familienverhältnisse, Demografie und Verstädterung spielen ebenso eine Rolle wie Wasser- und Luftverschmutzung. Engels berichtet auch von den Folgen: 1840 starben 57 Prozent der Arbeiterkinder vor dem fünften Lebensjahr, Typhus und Cholera waren stetige Begleiter.

Seine Zusammenfassung lässt keine Zweifel aufkommen: Die Industrialisierung habe »entmenschte, degradierte, intellektuell und moralisch zur Bestialität« herabgewürdigte Kreaturen hervorgebracht. Für Engels ist damit der Tatbestand des »sozialen Mordes« erfüllt. Klar benannt ist auch der Täter: die englische Bourgeoisie, die Abertausende von Menschen unter das Existenzminimum drückt.

Das England seiner Zeit war das Mutterland des industriellen Kapitalismus. Dort wurden zuerst im großen Maßstab Maschinen eingesetzt, es konnte mehr in kürzerer Zeit produziert werden. Die maschinell hergestellten Waren aus der Textilbranche, der damaligen Schlüsselindustrie, verdrängten die handgearbeiteten Produkte. Es folgten massenhafte Arbeitslosigkeit sowie - infolge der Enteignung - massive Landflucht.

Dieses »Arbeitskräftepotenzial« war Grundlage für die schnell wachsende Industrie der Städte. Die Hungerleider und Vertriebenen mussten jede Arbeit annehmen, um überleben zu können. Die »Unsicherheit der Existenz« bezeichnete Engels bereits mit dem bekannten Terminus der »Prekarität«. Noch 1859 lobte Marx die Studie als »geniale Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien« - Lenin nannte sie später »eines der besten Werke der sozialistischen Weltliteratur«.

Auch heute bietet »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« - trotz der unvermeidlichen Historisierung - einiges an aktuellen Parallelen. So geht es in der Analyse unter anderem um den Rassismus. Die irischen Migrant*innen spielen bei Engels die gleiche Rolle, die auch heute noch migrantischen Arbeitskräften zugeschrieben wird: Entweder nehmen sie »uns« die Arbeitsplätze weg oder drücken das Lohnniveau. Auch bei Engels standen die Iren kulturell und sozial »unter« den britischen Arbeitern.

Ebenso finden sich Hinweise darauf, wie im Kapitalismus mit technischen Neuerungen verfahren wird. Während zu Engels’ Zeiten die Spinnmaschine Arbeitsplätze vernichtete und die gesamte Arbeitswelt veränderte, ist es heute die Digitalisierung.

Bei Engels kann man lernen, dass solche Erneuerungen stets auf dem Rücken der Beschäftigten, die Angst vor ihrer Entlassung haben, sowie der Arbeitslosen, die sich alles gefallen lassen müssen, ausgetragen werden. Schließlich findet man bei ihm, dass die Klasse der Lohnabhängigen aus Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters besteht, die unterschiedliche Vorlieben und Einstellungen haben können. Was sie eint, ist das Interesse, ihre Arbeitskraft möglichst gesundheits- und zeitschonend sowie möglichst gut zu verkaufen - über alle Grenzen hinweg. Somit muss jede Klassenpolitik auch unbedingt internationalistisch, antirassistisch und feministisch zugleich sein.

All das hat Engels bereits gesehen und in deutlichen Worten festgehalten. »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« ist ein großer Wutschrei, eine Anklage der gesellschaftlichen Verhältnisse. Für aktuelle Sozialwissenschaft, die sich »wertneutral« auf Zahlen und Tabellen stützt, muss dies ein Gräuel sein. Doch Engels vermittelt mit seiner Parteilichkeit und seiner klar geäußerten Sympathie für die Arbeiter*innen einen tiefen Einblick in deren differenzierte Lebenswelt. Somit ist seine Studie nicht nur eine Beschreibung, sondern eine Analyse, die auch die Grundlagen der gesellschaftlichen Dynamik verändern will.

Im Gegensatz zur weitverbreiteten Armenliteratur seiner Zeit - wie von Charles Dickens - wollte Engels die Missstände nicht nur beschreiben, sondern sie auch beseitigen. Dass man sich dafür im Wortsinne die Hände schmutzig machen muss, ist die alte, aber immer noch aktuelle Erkenntnis von Friedrich Engels.

Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: Marx-Engels-Werke. Band 2. Dietz Berlin, 732 S., geb., 24,90 €;

Friedrich Engels: Im Widerspruch denken. Hrsg. v. Bruno Kern. Marix, 160 S., geb., 6 €;

Michael Krätke: Friedrich Engels oder: Wie ein »Cotton-Lord« den Marxismus erfand. Dietz Berlin, 200 S., br., 12 €.

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