Menschenrechte müssen Standard sein

Reformen bei Abschiebungen kranker Menschen und Ausbildung behinderter Jugendlicher gefordert

»Die Qualität des Menschenrechtsschutzes bemisst sich daran, ob die Rechte der Schwächsten geschützt werden«, sagte Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) bei der Vorstellung des 5. Menschenrechtsberichts am Dienstag. Die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution setzt sich dafür ein, dass Deutschland die Menschenrechte im In- und Ausland einhält und fördert. Im aktuellen Berichtszeitraum von Juli 2019 bis Juni 2020 ging es schwerpunktmäßig um Abschiebungen kranker Menschen und um die Ausbildung für Jugendliche mit Behinderungen. Der Bericht wird nun dem Bundestag vorgelegt.

Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, dürfen nicht abgeschoben werden, wenn sich ihr Gesundheitszustand durch die Abschiebung gravierend verschlechtern wird oder gar ihr Leben gefährdet ist. Dies verbieten die Grund- und Menschenrechte und das völkerrechtliche Verbot der Zurückweisung. Doch die Untersuchung des Instituts zeigt: Obwohl es Sache der betroffenen Person ist, eine Erkrankung nachzuweisen, ist das in der Praxis oft nicht möglich. So sei es schwierig, in der vorgegebenen Frist Dolmetscher*innen und Ärzt*innen zu finden, psychische Gutachten seien mit finanziellen Bürden verbunden und es sei undurchsichtig, wie genau der Nachweis über eine Erkrankung überhaupt erstellt werden solle. Die befragten Ärzt*innen konnten oft selbst nicht nachvollziehen, warum eine Aussetzung der Abschiebung abgelehnt worden war. Der von Politiker*innen wiederholt erhobene Vorwurf, dass Menschen Krankheiten vortäuschen, um einer Abschiebung zu entgehen, ließe sich laut DIMR nicht durch öffentlich verfügbare Daten stützen. »Die gesetzlichen Nachweispflichten in Paragraf 60a, Absatz 2c und 2d Aufenthaltsgesetz sind verfassungsrechtlich bedenklich und sollten durch den Bundestag abgeändert werden«, sagte Institutsdirektorin Rudolf. Margarete Bause, Sprecherin der Grünen für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, fordert eine Beweispflicht der Behörden. Ein großes Problem sieht das Institut bei Abschiebungen aus der stationären Behandlung in einem Krankenhaus oder einer Psychiatrie. »Abschiebungen aus stationären Einrichtungen sind zu verbieten«, sagte Rudolf. Sie begrüßte indessen, dass an vier Flughäfen in Deutschland unabhängige Abschiebeüberwachungen eingerichtet seien, und empfiehlt, dies auszuweiten. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl schließt sich den Forderungen des Instituts an.

Als zweites kritisierte das DIMR, dass Ausbildungen in besonderen Berufen für Menschen mit Behinderungen oft eine geringere Anschlussfähigkeit an den regulären Arbeitsmarkt aufwiesen. Es sei mit der UN-Behindertenkonvention nicht vereinbar, dass es zwei separate Ausbildungssysteme für Menschen mit und ohne Behinderung gebe. Haushaltsmittel müssten so eingesetzt werden, dass ein schnellstmöglicher, effektiver Übergang zu einem inklusiven allgemeinen Ausbildungssystem für alle Schulabgänger*innen gelinge, heißt es im Bericht. Dies dürfe weder zu Lasten der Qualität der Ausbildung von Menschen mit Behinderungen gehen, noch sollten bereits gesammelte Kompetenzen verloren gehen.

Außerdem forderte Rudolf, Arbeitsstättenverordnungen und Landesbauordnungen zu reformieren, für barrierefreie Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Auch Alexander Ahrens von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland sagte gegenüber »nd«: »Es muss gelingen, behinderte Auszubildende von Anfang an in eine betriebliche Ausbildung in der Wirtschaft zu bekommen, sonst wird es sehr schwer werden, aus den Sonderwelten zu entkommen.«

Der Bericht ging auch auf die Entwicklung von Themen vergangener Jahre ein. So sei der Zugang zu Bildung für geflüchtete Kinder nun durch die Corona-Pandemie zusätzlich erschwert. Auch Wohnungslose seien stärker gefährdet als zuvor. Global kritisierte das Institut, dass nur 20 Prozent der in Deutschland ansässigen Unternehmen mit mehr als 500 Angestellten ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht umsetzten; diese soll die Menschenrechtssituation entlang der Wertschöpfungs- und Lieferketten verbessern. Besonders bedauerte Rudolf, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft es bisher versäumt habe, gemeinsame Standards zu Rüstungsexporten zu entwickeln, die sich an Menschenrechten orientieren. Stattdessen genehmige Deutschland Waffenexporte in Staaten, die am Jemen-Krieg beteiligt sind.

Wenig überraschend war auch die Corona-Pandemie ein Thema im diesjährigen Bericht des DIMR. Rudolf forderte mehr Mitsprache der Parlamente: »Grundrechtseinschränkungen sind wichtige Entscheidungen, die der Gesetzgeber treffen muss.« Die jüngste Reform des Infektionsschutzgesetzes sei »ein erster wichtiger Schritt« gewesen, allerdings müssten die Maßnahmen präziser gefasst werden; pauschale Verbote etwa des Kontakts von Eltern zu erkrankten Kindern dürften nicht erfolgen. Und auch mit den Triage-Kriterien, nach denen im Zweifel der Zugang zu intensivmedizinischer Versorgung entschieden werde, müsste sich der Bundestag befassen. Eine solche Entscheidung dürfe nicht pauschal zu Lasten alter oder behinderter Menschen getroffen werden.

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