»Das ›gute, alte Bündnis‹ ist überholt«

Der Linke-Europapolitiker Helmut Scholz zur Demokratie in den USA, zu Joe Biden und zum Verhältnis zur EU

Der Sturm auf das Kapitol in Washington hat viele Menschen schockiert. Für den Amtsantritt des Demokraten Joe Biden als Präsident am Mittwoch werden abermals Ausschreitungen befürchtet. Zweifeln Sie am Zustand der Demokratie in den USA?

Der von Donald Trump angestachelte Sturm auf das Kapitol - wenn man es so bezeichnen darf - ist Ausdruck des Versuchs des abgewählten Präsidenten, sich an seiner dahinschwindenden Macht festzuklammern sowie Einfluss auf die amerikanische Politik auch nach dem Auszug aus dem Weißen Haus zu behalten. Er ist Ausdruck dessen, dass Trump in den vergangenen vier Jahren das konsequent umgesetzt hat, womit er angetreten ist: nämlich die Institutionen, das politische und demokratische Funktionieren der amerikanischen Gesellschaft seinen machtpolitischen Interessen unterzuordnen. Die Attacke auf das Parlament war nur die Spitze der Entwicklung, die wir in der Trump-Amtsperiode erlebt haben. Daher teile ich das Entsetzen und auch die scharfe Verurteilung des Mobs, der sich auf das Kapitol zubewegt hat. Aber dieser Mob, unter den sich viele Rechtsextremisten gemischt hatten, war nur die vor aller Welt sichtbare Kampftruppe Trumps. Viele Wählerinnen und Wähler in den USA sind in den letzten vier Jahren immer mehr auf die Lügen und die Hasstiraden Trumps hereingefallen. Die Fähigkeit, die Realität kritisch zu hinterfragen und zu sehen, was sich hinter der Strategie dieses von den Republikanern bis zuletzt gestützten Präsidenten Trump verbirgt, ist verloren gegangen. Und insofern ist das Funktionieren demokratischer Strukturen und Institutionen extrem gefährdet - weniger wegen des Angriffs auf das Kapitol als wegen der Unfähigkeit politischer Verantwortungsträger, deutlich zu erklären, was in den USA verändert werden muss: im Wirtschaftsleben, im politischen Leben, letztlich in der amerikanischen Gesellschaft insgesamt.

Journalisten sollen sich »warm anziehen«

Die Vereinigten Staaten sind in diesen Tagen ein heißes Pflaster, gerade auch für Journalistinnen und Journalisten. Vor der Amtseinführung des gewählten US-Präsidenten Joe Biden warnt der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) Korrespondenten vor der Gefahr von Anschlägen und Gewalt. »Alle Berichterstatter sind aufgerufen, am Mittwoch besonders vorsichtig und aufmerksam zu sein«, sagte der Bundesvorsitzende Frank Überall am Montag in Berlin.

Deutsche Medienunternehmen sollten nicht an Schutzausrüstung – wie beispielsweise Helmen – sparen, fordert Überall. Es sei erschreckend, dass in dem einst demokratischen Musterland ein solcher Appell nötig sei. »Ihren Hass und ihre Gewaltbereitschaft gegenüber Journalisten haben extremistische Trump-Fans bereits am Kapitol unter Beweis gestellt«, sagte Überall.

Journalisten waren Anfang Januar während des Sturms auf das Kapitol angegriffen und beleidigt worden. Die Randalierer hatten zudem Ausrüstung von Medienvertretern zerstört. Zur Vorsicht riet auch das Auswärtige Amt in Berlin: Mit gewalttätigen Protesten und Unruhen im ganzen Land müsse gerechnet werden, hieß es.
Washington bereitet sich inzwischen auf den Ernstfall vor: Aus Sorge vor Gewalt durch militante Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump schützen Tausende Polizisten und mehr als 20 000 Nationalgardisten Bidens Vereidigung am Mittwoch. Die Bundespolizei FBI gab bekannt, dass auch die Einheiten der Nationalgarde aus Sicherheitsgründen kontrolliert würden. Militante Gruppen sollen planen, die Amtseinführung Bidens zu stören und in allen 50 Bundesstaaten Regierungseinrichtungen zu stürmen. nd

Das heißt, dass der neue Präsident der Demokraten, Joe Biden, am 20. Januar mit einer schweren Bürde in sein Amt starten wird?

Helmut Scholz ist handelspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Europäischen Parlament. Er ist unter anderem Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel, in der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und im Transatlantischen Gesetzgeberdialog. Über das künftige Verhältnis zwischen EU und USA sowie die Herausforderungen für den neuen US-Präsidenten Joe Biden, der am Mittwoch sein Amt antritt, sprach mit ihm Uwe Sattler.
Helmut Scholz ist handelspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Europäischen Parlament. Er ist unter anderem Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel, in der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und im Transatlantischen Gesetzgeberdialog. Über das künftige Verhältnis zwischen EU und USA sowie die Herausforderungen für den neuen US-Präsidenten Joe Biden, der am Mittwoch sein Amt antritt, sprach mit ihm Uwe Sattler.

Mit Sicherheit. Wir müssen ja zur Kenntnis nehmen, dass die Hälfte der Wählerinnen und Wähler bei den US-Wahlen sich faktisch dafür ausgesprochen hat, das Anzetteln von Handelskriegen, die Vertiefung sozialer Gräben, die aggressive Politik auf internationaler Ebene, das Schüren von Hass und Rassismus fortzusetzen. Demgegenüber hat Trump sein Versprechen, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, kaum eingelöst. Die Frage an den neu gewählten Präsidenten wird sein, ob er in der Lage ist, die sozialen und wirtschaftlichen Erwartungen vieler Amerikanerinnen und Amerikaner wirklich zu erfüllen, Stichwort Gesundheitsreform, Stichwort Umbau der Wirtschaft, Stichwort sozial-ökologische Wende auch in der amerikanischen Wirtschaft. Dies wird die eigentliche Herausforderung sein, um damit letztlich auch die Gräben in der US-amerikanischen Gesellschaft einigermaßen zuzuschütten. Dazu wird der Präsident allein mit Sicherheit nicht in der Lage sein; das steht als Aufgabe vor allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes und auch vor den Parlamentarier*innen in beiden Häusern auf dem Capitol Hill.

Auch in der EU gibt es große Erwartungen an die Präsidentschaft Bidens. Was würde sich in den Beziehungen zur EU ändern?

Die Europäische Union muss sich sehr klar auf ihre eigenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgabenstellungen konzentrieren, die sich jetzt mit der Pandemie noch deutlicher zeigen. Wir müssen uns auf der europäischen Ebene doch viel stärker auf schnelle Veränderung in der Wirtschaftspolitik und auf wirtschaftliche Strategien im digitalen Zeitalter orientieren, um den Klimawandel zu stoppen, um die Artenvielfalt zu erhalten, um die Armut global zu überwinden und und und … Das müssen wir auch im Dialog mit den Vereinigten Staaten, wie mit anderen Staaten, in den Mittelpunkt stellen, damit diese Beziehungen andere, bessere sein werden. Eine Rückkehr zum »guten alten transatlantischen Verhältnis«, die ich aus vielen Reaktionen nach der nun feststehenden Amtsübernahme Bidens als Wunsch gesehen habe, ist für mich gar nicht erstrebenswert. Dieses »alte, traditionelle Bündnis« zwischen den USA und der EU ist einfach nicht mehr zeitgemäß, es ist überholt.

Und für das Neue wäre Biden kein Partner?

Seine Ankündigungen, die er gleich nach dem Wahltag gemacht hat, lassen erwarten, dass er sich dieser Aufgabenkomplexität und -vielfalt durchaus bewusst ist. Und natürlich ist ein Präsident Biden ein Fortschritt zu dem, was Trump als US-Präsident im Verhältnis EU-USA, aber auch weltweit angerichtet hat. Ob er diese Versprechen einlösen kann, ob er es wirklich zu einer realen Veränderung auch der amerikanischen Politik bringen kann, wird davon abhängen, wie auch innerhalb der Demokratischen Partei das Lager um Bernie Sanders und andere Druck ausüben können. Aber auch von einer anderen Politik der EU und ihrer 27 Mitgliedstaaten. Ich erinnere an die großen Erwartungen, die an die Administration unter Obama geknüpft wurden, Stichwort Beendigung des Wettrüstens. Die Realitäten in den Vereinigten Staaten, die Macht des militärisch-industriellen Komplexes haben die Worte Obamas sehr schnell entzaubert. Hatte der spätere Friedens-Nobelpreisträger EU das aktiv durch eigene Abrüstungsprogramme und Stopp von Rüstungsexporten unterstützt?

Sie sind handelspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Europäischen Parlament. Trump hat gerade die internationalen Handelsbeziehungen für seine »America first«-Politik genutzt - und viel Porzellan zerschlagen. Kein US-Präsident hat jemals so viele Handelskonflikte angezettelt wie Trump. Lässt sich das wieder reparieren?

Wenn die EU eine glaubhafte Handelspolitik gegenüber den USA entwickeln will, muss sie strikt auf eine regelbasierte multilaterale und faire Welthandelspolitik setzen. Das wird sich nur im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO und durch die Veränderung der WTO selbst, ihres Funktionierens und ihrer Struktur erreichen lassen. Gerade in dieser Hinsicht hat die Trump-Administration unglaublich gebremst. Dabei ist ganz klar: Die Handelsagenda der EU, aller Player in diesem Feld, muss eine inklusive, faire und auf gemeinschaftliche gemeinsame Standards setzende sein. Nur so lässt sich der Brand, den ich weltweit lodern sehe, austreten. Nehmen wir das Verhältnis zwischen den USA und China - zwei Wirtschaftsgiganten, Wettbewerber und hoffentlich auch Partner für die Europäische Union zugleich. Aber muss es nicht eigentlich in diesem Dreierverhältnis darum gehen, durch die Kombination von wirtschaftlichen Potenzialen dieser drei die zentralen Fragen für die Menschheit endlich anzugehen, anstatt sich gegeneinander aufzustellen? Um die Klimafrage so schnell wie möglich in den Griff zu bekommen, den sozial-ökologischen Umbau voranzutreiben, die Armut zu überwinden, Gerechtigkeit weltweit herzustellen und die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 zu erreichen, braucht es dringend ein Zusammenführen der Potenziale. Dies wird aber nur über ein verantwortungsbewusstes Agieren in auch im politischen Denken dekolonialisierten internationalen Gremien wie der UNCTAD oder anderen UN-Organisationen funktionieren. Auch die coronabedingt verschobene Ministerkonferenz der multilateralen WTO, die nun dieses Jahr ansteht, muss dafür Weichen stellen. US-Präsident Biden muss ebenso liefern wie Ursula von der Leyen und Xi Jiping und viele andere.

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