»Waren wir immer kritisch genug?«

Der ehemalige DDR-Botschafter Hans Georg-Schleicher über die Zeitenwende - in Südafrika und Deutschland

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf Heimatbesuch in Berlin erinnert sich Hans-Georg Schleicher an den epochalen Jahreswechsel 1989/90: »Quo vadis - DDR? Ein Land nicht wiederzuerkennen. Vieles Penetrante, Bedrückende ist weg - vor allem diese Schizophrenie, dieser Widerspruch zwischen Realität und ›realexistierenden Sozialismus‹.« Aus dem Munde eines ehemaligen Botschafters der DDR sind das bemerkenswert kritische Worte über ein Land, dem diplomatisch zu dienen ihm bis zum Ende offensichtlich eine Ehre war. »Ich konnte als Botschafter nicht meine Fahne in die Ecke stellen und mit einer neuen Fahne aus der anderen Ecke wieder hervorkommen«, antwortete er 1997 auf die - natürlich rein theoretische - Frage einer möglichen Beschäftigung im bundesdeutschen Auswärtigen Amt (AA) in einer Fernsehsendung mit dem Titel »Am Tag, als ...« des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB). Auch wenn es für Schleicher selbst nicht infrage gekommen wäre, sich als Diplomat der Bundesrepublik zur Verfügung zu stellen, kritisierte er zugleich »die pauschale Abgrenzung, die mich und meine Kollegen getroffen hatte«.

Zur Wendezeit war Schleicher in Namibia als Leiter der Beobachtermission der DDR tätig und erlebte die Ereignisse rund um den Mauerfall zumeist aus der Ferne. In Namibia fanden vom 7. bis 11. November 1989 Wahlen statt, die in die Unabhängigkeit des Landes 1990 mündeten. In Südafrika wurde Nelson Mandela nach über 20-jähriger Haft entlassen, was den Beginn des endgültigen Niedergangs des Apartheidstaates markierte, der mit dem Wahlsieg des Afrikanischen Nationalkongress (ANC) 1994 besiegelt wurde. Die gleichzeitigen historischen Zäsuren im südlichen Afrika und in Deutschland sind titelgebend für Schleicheers Erinnerungen: »Doppelte Zeitenwende«. Ein bemerkenswertes, lesenswertes Buch, das von den 70er-Jahren bis in die Gegenwart reicht.

Namibia war die letzte diplomatische Station von Schleichers Laufbahn im DDR-Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA). Sie begann 1974 mit seinem Einsatz in Sambia. Der Süden Afrikas liegt dem Autor erkennbar bis heute besonders am Herzen. Sambia stand damals im Zentrum des politischen und militärischen Befreiungskampfes der Region, den die DDR bereitwillig unterstützte. Am Ende von Schleichers dortigen Aufenthalt drei Jahre später waren Angola und Mosambik unabhängig geworden, 1980 folgte Simbabwe, wo er von 1983 bis 1988 als Botschafter der DDR amtierte, bevor es nach einem Heimataufenthalt nach Namibia ging. In Windhoek war Schleicher von 1989 bis zur Abwicklung der Beobachtermission der DDR im April 1990 tätig. In seiner einstigen Residenz dort befindet sich heute eine Filiale der Kreditanstalt für Wiederaufbau, deren Stammsitz in Frankfurt am Main ist. In Namibia regiert seit 1990 die südwestafrikanische Volksorganisation (SWAPO).

Die DDR gibt es seit über 30 Jahren nicht mehr, aber sie hat Spuren hinterlassen, nicht zuletzt im südlichen Afrika, wo die einstigen Befreiungskämpfer bis heute der DDR für ihre hilfreiche Unterstützung dankbar sind. Diese Solidarität und gegenseitige Verbundenheit durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Besonders eindringlich wird das anhand des Besuches von Ronnie Kasril 2018 in Teterow. Der Veteran des Anti-Apartheid-Kampfes in Südafrika wollte unbedingt an den Ort zurück, in deren Nähe, in einem Waldgebiet in der Mecklenburgischen Schweiz, einst streng geheim mehr als tausend Kämpfer des militärischen Arms des ANC ausgebildet worden waren: Kämpfer des »Speers der Nation«, des Umkhonto we Sizwe. Kasril und andere ehemalige Angehörige dieses militärischen Arms des ANC sind bis heute gute Bekannte und Freunde von Schleicher. Ihre Einschätzungen über Vergangenheit und Gegenwart machen die Lektüre zu einem spannenden zeitgeschichtlichen Dokument. Dabei wird nichts beschönigt, weder die Probleme der DDR noch die der Befreiungsbewegungen, die heute an der Macht in Namibia und Südafrika sind und sich teils mit Korruption herumschlagen müssen.

Georg Schleicher selbst hält sich in seinen Einschätzungen, die von Erinnerungen seiner Frau Ilona flankiert werden, zurück. »Wir haben uns auch Gedanken gemacht über unseren eigenen Leistungen (Fehlleistungen?), über unsere Rolle als Genossen und in der Arbeit. Noch sind nicht alle Fragen zu beantworten. Eins wissen wir Gott sei Dank hundertprozentig, wir waren immer sauber, immer ehrlich, unserer Sache verpflichtet. Die Frage ist: Waren wir immer kritisch genug?« Das Buch des Diplomaten a. D. und promovierten Historikers, der sich nach der Wende als Wissenschaftler und Dozent neu erfunden hat, ist jedenfalls kritisch, was die Entwicklungen im Norden wie im Süden angeht. Ein Buch, das »mit Herz und Verstand« verfasst ist.

Hans-Georg Schleicher: Doppelte Zeitenwende. Der Süden Afrikas und Deutschlands Osten. WeltTrends, 227 S., br., 19,75 €.

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