Roll over, Lockdown!

Ein Jahr Pandemie ist um. Hier sind die Corona-Charts als Zwischenergebnis

  • Thomas Lau
  • Lesedauer: 4 Min.

Im ersten Pandemiejahr hat sich eine Menge verändert. In der deutschen (und der globalen) Gesellschaft wird um eine neue Normalität gerungen, manche wollen sogar eine neue Wirklichkeit konstruieren. Alte Toleranzen verschwinden, doch es entstehen neue Solidaritäten. Auf die früher eindeutig zu beantwortende Frage »Wer mit wem und weswegen?« muss man derzeit schon sehr genau hinschauen, um halbwegs zufriedenstellende Antworten zu erhalten.

Und als wäre das alles nicht längst genug, verschiebt sich auch - wie in jeder kulturellen Schwellenphase - bei uns zum Beispiel der Musikgeschmack. Viele haben im letzten Jahr die Schallplatten neu sortiert und die Streaming-Playlist umstrukturiert. Flutlicht aus - Spot an! Es ist das Jahr der Corona-Charts. Und hier ist schon einmal eine Platzierungsliste, als Countdown runtergezählt, wie ein echter Lockdown.

Platz 10: »If 6 was 9« von Jimi Hendrix

Alle paar Monate passiert es, dass man sich etwas genauer mit dem Œuvre eines Musikers auseinandersetzt. Zu Beginn der Pandemie war es mal eben Jimi Hendrix: der auf drei LPs vorliegende Woodstock-Auftritt und dann das immer noch rätselhafte Projekt mit der »Band of Gypsies«. Punktabzüge gibt es für das Auftauchen dieses Tracks im Film »Easy Rider« von 1969. Mehr dazu im noch zu schreibenden Kapitel »Überflüssige Filmmusik«. Dafür bleiben zeitlos grandios die Zeilen: »Alright, if all the hippies cut off all their hair - I don’t care, I don’t care!«

Platz 9: »See-Line Woman« von Nina Simone

Die drei Musikerinnen, die bei Radio 6 Music, dem Digitalradio der BBC, am häufigsten gespielt werden, sind Nina Simone, Kate Bush und Björk. Wikipedia spendiert für diesen Titel von Nina Simone einen ganz schön langen Artikel und es bleiben - in der Studioversion - immer wieder zweieinhalb spannende Minuten Musik. Seit Jahren in der Sammlung, aber jetzt erst auf den tragbaren Player gezogen. Danke, London!

Platz 8: »C·30 C·60 C·90 Go!« von Bow Wow Wow

Anfang März 2021 starb mit dem Niederländer Lou Ottens der Erfinder der Kompaktkassette, und einige smarte Radio DJs legten in den folgenden Tagen diesen Song auf, gerne auch, ohne auf den besonderen Anlass zu verweisen. Ich also ab in den Keller des Hauses, das nichts vergisst, und nach der originalen Kassettensingle gesucht. Und gefunden!

Platz 7: »Germ Free Adolescence« von X-Ray Spex

Klar, den New-Wave-Klassiker »Oh Bondage! Up Yours!« von 1977 kennen wir alle, später geadelt durch ein Pussy-Riot-Cover. Das ist großes Wut-Kino mit der Frontfrau Poly Styrene! Im Februar 2021 hat der ihr gewidmete Dokumentarfilm »I Am A Cliché« Premiere. Das englische Radio spielt jetzt häufig den charmanten Titelsong des Debütalbum »Germ Free Adolescence«, der an Inga Humpe gemahnt.

Platz 6: »Warning, Warning« von Toots & The Maytals

Im September 2020 stirbt Toots Hibbert als prominentes Covid-Opfer, ein Reggae-Pionier. Einen Monat vorher erschien noch dieser Song gegen Ungerechtigkeit und Korruption.

Platz 5: »Grounds« von Idles

Punk-Rock. Aus Bristol. Mit langem, dichten Bart. Wenn mir das jemand 1978 erzählt hätte. (Hat aber niemand.)

Platz 4: »This flight tonight« von Joni Mitchell

»Man kann Barbar sein und trotzdem Blumen lieben!« wissen wir seit Asterix (Grosser Asterix-Band VII, »Asterix und die Goten«, S.11, Stuttgart 1971), insbesondere wenn wir den zarten Song (1971) eigentlich später erst als Schweinerock-Brett (Nazareth, 1973!) in der Dienstagsdisco im Evangelischen Jugendheim kennengelernt haben. Frühe 70er Jahre. Fragt bloß nicht!

Platz 3: »Am Nachbartisch sitzt Gerhard Richter und ich habe in Kunst nur eine 3« von The Weleits

Endlich hat man in der Pandemie die Zeit, sich angemessen an den Klopfer »Männerphantasien« von Klaus Theweleit heranzuwagen. Seine Dissertation aus den späten 70ern. Für den etwas eigentümlichen Flow und das immense Datenmaterial wird ein leicht höherer Leseaufwand benötigt. Drüben in den Bücher-Corona-Charts liegt Klaus Theweleit damit unangefochten auf Platz 1. In diesem Lied hört es sich so an: Theweleit trifft Kettcar meets Spinal Tap. Brandneues Projekt, entstanden im Rahmen eines Skypeaustausches mit Freunden in der Bundeshauptstadt. Besuchen geht ja nicht (mehr). Da es auf beiden Seiten guten Rotwein gab, bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich in dieser Kapelle Bass spielen soll. Demotape in Vorbereitung. Vielleicht.

Platz 2: »All my friends« von LCD Soundsystem

Arcade Fire mit Robert Habeck als Sänger. Pathos, Gestik, Groove, Frisur - kommt (fast) alles hin. Eine Gruppe, die erst im letzten Jahr auf dem Radar auftauchte. Warum auch immer. Gibt es nämlich schon seit 2001.

Platz 1: »Isolation« von Joy Division

Die größte Fallhöhe auf Platz 1 ist auch das große biografische Rätsel: Was haben wir Älteren damals eigentlich gemacht? Beim Herumhipstern in den 80er Jahren »Love will tear us apart« mitgejammert, bestimmt auch einmal zu »Transmission« getanzt oder die Bewegungen vollführt, die wir für Tanzen hielten. Aber »Isolation«? Dank dem Radio jetzt erst richtig gehört, im Gym würde es auf Repeat laufen, aber geht ja gerade (alles) nicht.

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