Splitterregen, Wonne, Wucht

Teilchenzauber, Tropfenfülle. Das neue Buch von Botho Strauß: »Vom Aufenthalt«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Vor einigen Jahren schrieb Botho Strauß einen Essay über einen vergessenen Dichter, Konrad Weiß (1880 bis 1940), darin die Sätze: »Äußerste Verdichtungen der Sprache oder besser gesagt: gesteigerte, ausgangslose Erlebnisformen des Deutschen ... sind unverzichtbar, um die Sprache als Dienstmittel, sei es in der Erzählkunst oder der gesellschaftlichen Verständigung, von Zeit zu Zeit stärkend zu unterbrechen – damit sie nicht konstant ihrem Mangel anheim fällt. Dies geschieht unvermeidlich um den Preis der Abgeschlossenheit, denn im Herzen der Verdichtung kann zunächst kein anderer als der Dichter sein.«

Im nun jüngsten Buch – wieder Reflexionen, Notates, Kürzestessays, Eingebungen, Gedankenstürze, »flüchtige Vibrationen und Schattierungen« – steht es ähnlich, aber geradezu klirrend lakonisch: »Fremdwörter? Es gibt keine Fremdwörter. Es gibt nur einen Mangel an sprachlichem Aneignungsdrang.«

Botho Strauß zieht Grenzen zur sichtbaren Welt; sein Buch beginnt mit der Klärung dessen, was ihm »Aufenthalt bedeutet«. Ein Heimkehrer von weiter Reise muss kurz vorm Ziel auf einem Grenzbahnhof bleiben, da ein Putsch in der ersehnten Heimat die Rückkehr verhindert. Da sitzt er nun, in »reiner Tatenlosigkeit«, wird zum »Feind der Ereignisse«. Das Grundgefühl für die Grund-Lage unserer Existenz: Wir sind Gäste auf Erden, was wir Zeit nennen, ist Frist. Im schnürenden Erschrecken wird der Autor doch aber »Arbeiter und Sprecher der Weite« – Erinnerung und Ausblick, Vergangenheit und Gegenwart, Jugend und Verwitterung, der Sohn, die Spielarten und Unarten des Liebens und Geliebtwerdens fallen ihm ins Wort, das er für die Dinge sucht, die das Gelände bilden aus anmutiger Einsamkeit, schöner Verlorenheit, schlimmer Einsamkeit, fröstelnd machender Verlorenheit.

Es weht etwas durch die Zeilen und meist kurzen Blöcke dieser dreihundert Seiten, das sich der Allmacht der Materie widersetzt; Strauß bejaht mit der Gewalt eines Stolzpanzers (der freilich nur aus dem »Blütenstaub« des Novalis gemacht scheint) seine Spiritualität. Auch im neuen Buch gesteht sich der Autor ein, was er bereits in seinem früheren Buch »Paare, Passanten« schrieb: Man bringe trotz aller Erkenntnisvermehrung »von seinen Mitmenschen heute keinen Deut mehr in Erfahrung, als schon ein Tschechow, ein Musil oder Flaubert zu ihrer Zeit beobachtet haben«. Ein Buch der »Anknüpfungen« ist so entstanden, Strauß fühlt sich als Sendbote Größerer, Früherer, Unvergänglicher. »Ich fülle nur die kleinen Lücken, die meine Lieblingsautoren in ihren Büchern hinterließen. Dann und wann haben sie einen verspäteten posthumen Einfall – dafür gibt es mich.«

Bilanz eines Menschen, der leise, aber dann auch heftig und ungerecht gegen Herrn und Frau Jedermann, böse auch und nicht nur spür-, sondern auch rümpfnäsig seine Begrenztheiten durchsinnt, seine Annäherungen an Daseinsgründe und -aufträge, die aber doch niemals wirkliche Durchdringungen sind; ein unruhiges, auch trübes und schwaches Leben scheint da durch, das sich immer wieder fragt, ob wir wahrlich teilhaben an der großen Unerschütterlichkeit der Dinge.

Leichtfertig und bequem, den Dichter als einen Zurückgezogenen zu bezeichnen und dafür unsinnigerweise sogar dessen Landsitz in der Uckermark heranzunehmen. Wer einem anderen die Zurückgezogenheit drüberstempelt, der misst sich selber ein Inmitten zu, maßt sich als Urteilsort ein Zentralgestirn an, das zu bewohnen man lieber nicht anstreben sollte. Und das es auch gar nicht gibt. Aber freilich: Es gibt, so tröstend wie furchtentfaltend, eine Blickabkehr vom »Kleinlichen«, an das wir verloren sind, eine Abkehr von jener »moralischen Selbstverwaltung« (Strauß), die uns die Fühlung stiehlt für unsichtbare Verbindungen zu höheren, ferneren, von früher her wirkenden, überdauernskräftigen, stillen Kräften, die unser aktuelles fieberndes Weiterschnurren höhlenartig unterlaufen. Auch das Weiterschnurren des Medialen, das sich Diskurs, Öffentlichkeit nennt. »Die Süffisanz allein der anderen Meinung! Diese gekrümmte Prokuristen-Beflissenheit, der knechtische Trotz der Entgegnung. Es herrscht ein Nichts an innerem Erleben zwischen mir und dem, der anderer Meinung ist ... Das All ist erfüllt von jedermanns erbrochenem Alltag. Das Logbuch einer weltweiten Mitteilungsinkontenenz« mache auch alle Bücher gleich. Ein Mensch ist da auf der Suche nach dem, »was nicht zur Debatte steht«. Einmal das Gesetz finden, »von dem man nur abfallen kann, das sich nicht an jede Veränderung anpassen, nicht in Zweifel oder in den Streit ziehen lässt«.

Paar-Beziehungen. Keiner hat sie auf hauchdünnem Eisgrund bürgerlicher Sicherheiten so scharf und das Irrationale darin so kaltleuchtend, so ironisch irrlichternd erfassen können. Auch dies Buch ist ein Wanderführer ins Un(ter)bewusste, nur die Verirrungsmöglichkeiten sind bestens ausgeschildert. Die Geschichten, Aphorismen, die Durchmischungen aus Erzählung und Philosophiestück bilden, oft todheiter, jenes erwähnte sprachhermetische Feld. Was fasziniert, ist diese radikal fremde Schönheit der Gedanken; in diese ganz andere Schönheit hackt man sich hinein wie die Unliterarischen sich in ihre Großrechner hineinhacken, und plötzlich ist die Membran zu einer Welt durchstoßen, ganz anders als das, was wir um uns haben, diese Laptop- und Firmenödnis.

Es gibt für Strauß kein Heil, aber es gibt die Heilsamkeit, noch etwas anderes anzunehmen als einzig die Helle unseres Bewusstseins; es geht also darum, die Konsequenzen unseres aktiven, Wissen fressenden Verstandes immer auch ein Gutteil zu fürchten. Aufklärung ist nicht alles, und nicht jedes ist gleich eine scheltenswerte Gegenaufklärung, was die Dantesche Vorhölle zum wahren Existenzort erhebt. »Die Religiösen verstehen sich aufs Deuten. Die Ungläubigen benötigen Klartext.«

Bei Strauß heißt das bestürzend greifende Erlebnis, wie es auch der Novellist Hartmut Lange bezeichnete: »keine Vernunft ohne Trauer, keine Wissenschaft ohne Demut, keine Erkenntnis ohne Betroffensein.« Keine Idee ohne Hilflosigkeit: Dem theoretisierenden Poeten Strauß zerbrechen fortwährend die Ganzheiten, aber es geschieht im eigenen Werk jene Verwandlung, für die ihm Hofmannsthals Lord Chanton ein Gleichnis wurde, da auch diesem »die Wörter, die Dinge in Teile und diese wiederum in Teile zerfielen«, was aber Ausdruck »des überschwenglichen, des komplexen Begreifens« war. Nicht Zerfall, »sondern Energiewandel, der zum Aufbau neuer Erkenntnisfelder beitrug. Der Weg zu den Teilchen war die unabdingbare Voraussetzung, um Genaueres vom Ganzen zu erfahren«.

Zu enden angemessen: noch einmal Botho Strauß anlässlich der Erinnerung an Konrad Weiß. »Wer aber wäre heute bereit, zu lesen und schwer zu verstehen? Und wenn er wieder und wieder läse und verstünde weniger als beim ersten Mal, weil der Sinn sich entzieht wie eine Luftspiegelung, der man sich nähert, und wie ein Fresko auf einer frisch ausgegrabenen Mauer, das im Taglicht verblasst? Wer wäre dennoch bereit, es ein nächstes Mal zu versuchen?«

Der Splitterregen dieser Texte, in den man sein Gemüt hebt wie ein Erfrischung von oben heischendes Gesicht, dieser Splitterregen ist eine elementare Wonne, er prasselt, er wäscht rein, er bewirkt Porenöffnung, er hat eine gemächliche Wucht, die wohltuend erschlägt. Tropfenfülle und Teilchenzauber.

Heute wird Botho Strauß, 1944 in Naumburg an der Saale geboren, fünfundsechzig Jahre alt.

  • Botho Strauß: Vom Aufenthalt. Carl Hanser Verlag München, 295 S., 21,50 Euro.
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