Gut gelaunte Grausamkeit

Das Musical »Frau Zucker will die Weltherrschaft« in der Neuköllner Oper

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit dem Quirl gegen die Fantasie: Angela Bittel als Frau Zucker
Mit dem Quirl gegen die Fantasie: Angela Bittel als Frau Zucker

Wie ein offenes Buch zeigt sich das Mietshaus in der Ausstattung von Daria Kornysheva in der Neuköllner Oper. Schönes Bild, zumal »Frau Zucker will die Weltherrschaft« eine freie Adaption des Grimmschen Märchens »Hänsel und Gretel« ist.

Für die Kinder hassende Hexe heutzutage geht es um Kohle. Wie überall auf der Welt, wo es kracht. Um Energie, die Kohle bringt. Das Mädchen Meg fand heraus, dass mit der Nachbarin Zucker, die Kinder mit Leckereien zu sich lockt, etwas nicht stimmt. Aber sie bleibt mit ihren Warnungen auf einsamem Posten. Angeblich ist das ihre eigene Theorie, nach der in einem Kind so viel Energie steckt wie vierhundert Millionen Tonnen Rohöl. Saugt man die ab, ist Berlin drei Jahre lang mit Strom versorgt. Aus dem Kind wird dann ein spannungsloser Erwachsener. Also etwas Normales. Zwei davon sind schon in Zuckers Diensten. Da hat Nadine Aßmann, die aus einem intelligenten Kind entstandene Frau Dr. Giftig, nix zu lachen. Lächerlich hingegen gestaltet sich zu guter Letzt die Rückverwandlung von Helfer Braasch (Rupert Markthaler) in einen Hosenscheißer. Mehr Energieexport aus dem Mietshaus soll Zuckerschen Profitzuwachs bringen. Tatort ist ihre Duschkabine. Wird das Ding angeschmissen, leuchtet im geschickt eingesetzten Kurzvideo von René von der Waar sogar die Fernsehturmkugel.

Megs Eltern denken, die Kleine spinnt. »Kinder haben zu viel Fantasie« ist ein mitreißender Song, den alle Darsteller singen und tanzen. Die Choreographie von Neva Howard hält sich bis zum Ende des Stücks, ist sauber einstudiert, wird engagiert getanzt. Kinder haben zu viel Energie, meinen Megs Eltern auch. Sie hadern damit, dass ihnen Zeit für ihr Kind fehlt, ändern es aber nicht. Auf Krankheit und Desinteresse verweist das Familiengrusical ebenso als Ursachen mangelnder Zuwendung. Das wird nicht großartig dargelegt, aber belegt. All das macht Frau Zucker die Sache leicht.

Peter Lund führt Regie bei der Koproduktion mit der Universität der Künste, wo er seit 2003 als Musical-Professor arbeitet. Er schrieb den mitunter ganz locker mal ins Böse gleitenden Text. Beispielsweise, wenn es um die Abschiebung einer kranken Mutter ins Heim geht. Unter Medikamenteneinfluss singt die Betroffene sogar fröhlich »für alle das Beste« mit. Mit seiner Musik folgt Wolfgang Böhmer Lunds Intentionen. Manchmal streift sie die operettenhafte Scheinwelt. Mit grausig-gemütlichem Walzer macht das Grusical seinem Namen alle Ehre.

Humorvoll ist es natürlich trotzdem. Sonst wär's kein Lund. Walesca Frank als Meg sprüht tatsächlich vor Energie. Als ihre Eltern zeigen sich Valerija Laubach und Nikolas Heiber zeitweise komisch hilflos. Die zum Aufpassen von ihnen dauernd ins Haus geholte »Dumpfbacke« Paul, wie Meg zunächst meint, entpuppt sich als ihr Helfer. Eine kleine Rolle, aus der Nicky Wuchinger viel macht.

Diese Aufgabe meistert auch Andrea Sanchez del Solar als kranke Mutter von Tine, dem Nachbarskind (im Wechsel Christina Patten, Maria Danaé Bansen), das zur zickigen Erwachsenen mutiert. Sympathie schlägt dem kleinen dicken Hans entgegen, der dauernd bei Frau Zucker isst, weil keiner mit ihm spielt. André Haedicke macht sich klein für diese Rolle. Gegen das letztliche Schrumpfen von Frau Zucker zurück ins Babyalter ist das natürlich nichts. Angela Bittel gibt beschwingt die geldgierige Hexe. Grusical hin, Grusical her. Auch das kleine Orchester hinter dem »Mietshaus« ist gut gelaunt bei der Sache.

So viel Gemeinheit - und man geht erst mal beschwingt nach den zwei Stunden. Es ist ja nicht neu, dass das grausame Grimmsche Urwerk sich an Erwachsene richtete. Nun bekommen sie die alte Geschichte wieder vorgesetzt. Raffiniert verpackt.

Wieder ab 20.10., 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131, Neukölln, Tel.: (030) 68 89 07 77, www.neukoellneroper.de

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