Auf Spurensuche am Kilimandscharo

Jedes Jahr zieht das Dach Afrikas Tausende von »Eroberern« an Nur wenige kennen die Geschichte der Eroberung des Berges und seines Umlands - eine Geschichte von blutigen Kolonialkriegen, Zwangs- und Kinderarbeit

  • Eckhard Schulz
  • Lesedauer: ca. 6.5 Min.
Von meinem Zuhause in Grabow bei Burg bis an den Südfuß des Kilimandscharo sind es genau 8460 Kilometer - gerechnet per Bahn nach Frankfurt (Main) und per Flug mit Ethiopian Airlines via Addis Abeba.
In der äthiopischen Hauptstadt wieder aufgestiegen, schneidet die Maschine den Äquator, passiert den Mount Kenya und die kenianische Hauptstadt Nairobi. Dann plötzlich drängt es die Europäer - in schweren Bergschuhen und saloppem Outfit - an die Kabinenfenster. Denn eben hat der Captain angesagt: »Wir nähern uns dem Kilimandscharo und die Sicht ist ungewöhnlich gut.« Keiner der Gipfelstürmer möchte diesen ersten Blick auf das Dach Afrikas - das Ziel seiner weiten Reise - verpassen. Tatsächlich, das ist der faszinierendste Anblick auch meiner mehr als 50 Vorbeiflüge am Kilimandscharo.
Beim Landeanflug zieht die Boeing noch eine halbe Runde um den Kibo, den Hauptgipfel des größten Einzelberges der Erde. Plastisch und zum Greifen nah scheinen die tiefen Erosionsrinnen des gestutzten Vulkankegels. Seine braune eingesunkene Kuppe ist ein Krater von erstaunlichen Ausmaßen. Und in der Mondlandschaft liegt wie ein erhöhtes Monsterauge noch ein kleinerer Innenkrater, der eigentliche Schlund der alten Vulkanruine.

In 30 Jahren ohne Eis?
Von dem einst geschlossenen Gletschermantel, der vor über hundert Jahren die Erstbesteigung so gewaltig erschwerte, sehen wir nur noch einzelne Gletscherfelder und Eisblöcke zwischen nacktem, dunklem Fels und Schutt. Dennoch liegen auf der arktischen Kibo-Kuppe vier Quadratkilometer Eisdecke - ein Fünftel der Natureisvorkommen von Afrika. Als Folge der globalen Erwärmung und der Ausdünnung des Bergurwaldes soll dieses Eis - 5000 Meter höher als die heißen Savannen - allerdings in 30 Jahren gänzlich verschwunden sein. Das prophezeit ein US-amerikanisches Wissenschaftlerteam unter Professor Lonnie Thomson, das den Rückzug der Gletscher erforscht und seit 1999 auch das Eisschrumpfen auf dem Kibo studiert.
Ankunft auf dem KIA - Kilimanjaro International Airport. »Karibu nyumbani! Habari za siku nyingi? How was the flight?« (Willkommen zu Hause! Wie geht's? Wie war der Flug?) empfängt mich mein tansanischer Freund Harshit Shah in einem Gemisch aus Swahili und Englisch. Mit Blick auf meinen fast leeren Bergrucksack fragt er mich: »Willst du dieses Mal etwa auch ein paar Kilo Kilimandscharo-Spitze mit nach Deutschland schleppen?« Erst kurz zuvor hatten wir gemeinsam - und auf Filzlatschen - an der höchsten Spitze des Kilimandscharo gestanden. Doch nicht ein afrikanischer Bergführer, sondern eine Potsdamer Museumsführerin hatte Harshit und mich zu dem braunen Lavabrocken an einer Wand im Neuen Palais gebracht.

Gewichtiges Souvenir
Der berühmte Stein, seit 1890 in Deutschland, war ein Souvenir für den Kaiser - vom »höchsten Berg des Deutschen Reiches«. Mitgebracht aus »Deutsch-Ostafrika« hatte ihn der Leipziger Dr. Hans Meyer, der am 6. Oktober 1889 vor seinem Begleiter Ludwig Purtscheller aus Salzburg als erster Mensch den höchsten Punkt Afrikas betrat und im kolonialen Zeitverständnis »Kaiser-Wilhelm-Spitze« taufte (neueste Höhenangabe 5892 Meter). Das schwergewichtige Mitbringsel für Wilhelm II. war an jenem Tag nach Flaggehissen und Taufzeremonie in Meyers Rucksack gewandert. Und Seine Majestät geruhte, Widmung und Spitze in natura anzunehmen. Fortan zierte die »höchste deutsche Bergspitze« den kaiserlichen Schreibtisch als Briefbeschwerer, bis sie ihren Platz in einer Wand des Muschelsaals im Potsdamer Neuen Palais fand.
Eine halbe Autostunde östlich vom KIA liegt Moshi, die Hauptstadt der Kilimandscharo-Region. Die auf den inselartigen Bergriesen zulaufende Chaussee geht durch dürres Weideland und gelbe Maisfelder. »Geschwindigkeit tötet!« warnt ein mehrmals wiederholtes Swahili-Verkehrsschild. Uns überholen und begegnen Busse mit Tempo 120 oder mehr. Das Motto eines Fahrers steht auf der Frontscheibe: »In God we trust.« (Wir vertrauen auf Gott.) Und am Heck: »Yesu ni Baba yetu.« (Swahili: Jesus ist unser Herr).
4800 Quadratkilometer bedeckt das Kilimandscharo-Massiv - die gleiche Grundfläche wie der Harz. Und wie der Brocken auf Wernigerode herabschaut, blickt der weiße Dom des Kibo auf die Dächer Moshis. Die Stadt liegt nur 800 Meter hoch, ist erst 90 Jahre alt und hat etwa 160000 Einwohner, die meisten Angehörige des Chagga-Volkes.
Am Kreisverkehr des Stadtzentrums liegen das Postamt, die Bambus-Bar, das Hotel der Kaffeepflanzergenossenschaft und das »Kahawa House« (Kahawa - Kaffee). Nicht nach Tässchen, sondern nach Tonnen wird in diesem Kaffeehaus der berühmte Arabica-Kaffee der Chagga-Bauern verkauft oder versteigert. Gegenüber, wo an der Mawenzi-Straße eine riesige Reklametafel für »Ndovu Beer« (Elefantenbier) wirbt, zogen vor hundert Jahren tatsächlich noch Elefanten und Zebras durch Buschland.

Endstation Moschi
Eine Speiche des Kreisverkehrs ist die Bahnhofstraße, die zur »Moshi Station« führt - vor dem Ersten Weltkrieg der Endpunkt der Usambara-Eisenbahn und sozusagen die Keimzelle für die heranwachsende kolonialdeutsche Stadt Neu Moschi. Ab Februar 1912 zogen pfeifende Lokomotiven ihre Züge von der Hafenstadt Tanga am Indischen Ozean bis an den Südfuß des Kilimandscharo - 352 Kilometer in 14 Stunden und 40 Minuten. Für die Schiffsreise von Hamburg nach Tanga brauchte man damals allerdings 33 Tage. Produkte wie Sisalhanf und Kaffee waren die Exportgüter des Moschi-Bezirks, in dem 1913 rund 1000 Europäer lebten - ein Viertel der weißen Bewohner der Kolonie Deutsch-Ostafrika.
Ein Gürtel von Europäerpflanzungen, die bis 1000 Hektar groß waren, zog sich um das Land der Chagga-Bauern. Laut Erlass des Bezirksamtes Moschi von 1911 mussten alle arbeitsfähigen einheimischen Männer 90 Tage im Jahr auf Europäerplantagen arbeiten. Ihr Monatslohn betrug durchschnittlich 8 Rupien, ein Zehntel des Lohnes deutscher Landarbeiter! Frauen erhielten weniger, Kinder nicht mehr als die Hälfte. Bis 10000 Männer und 5000 Kinder waren zeitweilig auf den Farmbetrieben tätig.
Spurensuche inmitten üppiger Tropenvegetation. Der Reverend und Gymnasiallehrer Peter A. Komba nimmt mich mit nach Old Moshi - Alt Moschi war das deutsche Verwaltungszentrum des Kilimandscharo-Gebietes. Wir laufen durch kühle Bananenhaine. Überall im Schatten der großblättrigen Stauden wachsen Kaffeebäume, die zu den verstreut liegenden kleinbäuerlichen Anwesen gehören. Alt Moschi ist zwei Marschstunden von Bahnhof und Stadt Moshi entfernt und liegt 1150 Meter hoch. Hier oben suche ich die Residenz eines Mannes, der für die Errichtung und Festigung der deutschen Herrschaft an »des Kaisers höchstem Berg« gewirkt hatte. Seine Boma (Swahili: befestigter Herrschersitz) mit ihren Bastionen, einem Maschinengewehr und Revolvergeschütz war jahrelang die erste weiße Adresse am Kilimandscharo und eine sichere Zuflucht für Siedler und Missionare. Aber auch ein Ort des Schreckens für die Chagga-Männer, die die Wadachi, die Deutschen, in ihrer Heimat nicht wollten.
Vor uns bergauf ist die Kolila Secondary School, an der Peter Komba unterrichtet. Sie steht auf den erhöhten Grundmauern der alten Boma von Hauptmann Kurt Johannes, dem gebürtigen Magdeburger, der von 1892 bis 1901 den »deutschen« Kilimandscharo und sein Umland mit eiserner Faust und einer Kompanie afrikanischer Söldner regierte. Der Kolonialoffizier führte von dieser Feste aus endlose Buschgefechte, bei denen oft Hunderte von Afrikanern getötet wurden, gegen unbotmäßige Häuptlinge und deren Kriegerscharen. Er schloss nützliche Freundschaften oder nutzte Rivalitäten zwischen örtlichen Feudalherrschern aus und vertraute auf die Überlegenheit europäischer Waffen. Nur eine Hand voll deutscher Offiziere und Unteroffiziere standen ihm zur Seite.
Mr. Komba zeigt mir einen Steinwurf unterhalb der Boma die schwarzen Granitgrabplatten zweier junger Leutnants, Wilhelm Wolfrum und Emil Ax, gefallen 1892 und 1893 bei Bestrafungsexpeditionen gegen den aufständischen Häuptling Meli.
Nicht seine Verdienste um den Straßenbau oder die Förderung der Mission und der wissenschaftlichen Erforschung des Kilimandscharo, sondern seine Galgen haben Kurt Johannes in Tansanias Geschichtslehrbücher gebracht. Im März 1900 ließ er 19 Chagga-Führer - unter ihnen Häuptling Meli -, die angeblich an einem Überfall auf die Militärstation Moschi beteiligt waren, sozusagen vor seiner Haustür öffentlich hängen.

Seit 1961 Freiheitsgipfel
30 Jahre deutsche Fremdherrschaft hatten der Kilimandscharo und die Chagga hinter sich, als im März 1916 über der Feste von Kurt Johannes - inzwischen Sitz des deutschen Bezirksamts Moschi - der Union Jack gehisst wurde. Nach verlustreichen Kämpfen gegen die deutsche Kolonialarmee hatten britisch-südafrikanische Truppen - aus dem heutigen Kenia vordringend - dem Kaiser bereits »seinen« höchsten Berg weggenommen. Und der blieb britisch, bis das Tanganyika Territory 1961 unabhängig wurde und die Kaiser-Wilhelm-Spitze ihren jetzigen Namen erhielt: »Uhuru Peak« - Freiheitsgipfel. Der neue afrikanische Staat, seit der Vereinigung mit Sansibar 1964 Tansania, machte den ganzen oberen Kilimandscharo 1973 zum Nationalpark und erschloss ihn als Bergsteigerparadies...

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